Aktuelle Theorien zur europäischen Identität von Edgar Morin und Rémi Brague lesen sich, als hätten sie sie in der Auseinandersetzung mit den Romanen von Feuchtwanger und Broch entwickelt. Morin spricht in Penser l’Europe 19 von der dialogischen Beziehung, die zwischen den griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Basiselementen der europäischen Kultur bestehen. Dabei orientiert er sich am Verständnis des Dialogischen, wie es von Michail Bachtin 20 in Abgrenzung von der Dialektik Hegels entwickelt wurde. Morin sieht die europäische Kulturmischung nicht als Synthese, d.h. nicht als Ergebnis eines dialektischen Prozesses, sondern als eine Kombination von Bestandteilen, deren jeweilige ‚Logiken‘ konkurrierend, antagonistisch oder komplementär aufeinander bezogen bleiben. Das Griechische, das Römische, das Jüdische und das Christliche haben sich nach seiner Auffassung mit ihren Besonderheiten in der komplexen Kulturmischung durchaus erhalten, und gerade das mache ihre fruchtbare Spannung aus, die neue Renaissancen griechischer, römischer, jüdischer und christlicher Weltanschauungen und Lebensstile durch die Jahrhunderte hin ermögliche.
Rémi Brague stellte in seinem Buch Europe. La voie romaine 21 die Theorie von der exzentrischen Struktur der Basiselemente europäischer Zivilisation auf. Für ihn wie für Morin, dessen Theorie er unbeachtet lässt, bilden Griechisches, Römisches, Jüdisches und Christliches die Grundlagen europäischer Kultur. Brague geht es dabei nicht um die dialogische Bezogenheit dieser Bestandteile, sondern um ihre exzentrische Konstellation. Rom ist zum einen das Zentrum einer antik-mediterranen, d.h. multikontinentalen Kultur, zum anderen auch Mittelpunkt des späteren lateinisch-christlichen Europas. Aber weder das antike noch das christliche Rom sind nach Brague ursprünglich und selbstbezogen, sondern haben ihre Zielvorgaben zum einen von Athen, zum anderen von Jerusalem erhalten. Exzentrisch sei das Rom der Antike und das Rom der Päpste, weil es jeweils angewiesen sei auf eine ursprüngliche Kultur: auf die griechische Athens bzw. die jüdische Jerusalems. Athen und Jerusalem seien Ursprung und Bezugspunkt des antiken wie des christlichen Roms, die jeweils als sekundär und nachgeordnet einzustufen seien. In wiederholten kulturellen Renaissancen und religiösen Reformationen habe sich die Stärke der beiden Vorbilder erwiesen. Der Mangel an Authentischem werde in Rom aber wettgemacht durch eine Dynamik, die gerade aus der Unabgeschlossenheit resultiere.
Es drängen sich Fragen auf, die bereits in Brochs Roman Der Tod des Vergil – also ein halbes Jahrhundert vor Brague – gestellt worden sind: Verstand Rom sich wirklich so stark auf Athen bezogen, dass es dort den Ursprung seiner Kultur gesehen hätte? Rom hatte seine eigenen Ursprungsmythen, in denen Athen nicht vorkommt. Brochs Buch erinnert daran, wie Vergil die durch Hellenen zerstörte Dynastie des Trojanischen Herrscherhauses rehabilitiert, indem er die Karriere des Aeneas zum Gründer Roms nachzeichnet. Die Überlegenheit Roms wird deutlich in den Vorstellungen über die Pax Romana, 22 wie sie von Plinius dem Älteren in der Naturalis Historia, von Vergil in der Aeneis und von Ovid in den Fasti zum Ausdruck kommt: Rom vermittelt nach Plinius der ganzen Menschheit Humanitas (NH III, 39); Jupiter teilt dem Aeneas mit, dass er ihm „ein Reich ohne Grenzen“ geben werde (Aeneis I, 279), was in Brochs Roman von Augustus triumphierend zitiert wird (KW 4, 294), und Ovid hält fest, dass das Gebiet der Stadt Rom und des Erdkreises identisch sei (Fasti, 2. Buch, 684). 23 Und verstand sich das Paulinische Christentum, das sich im Imperium Romanum ausbreitete, wirklich als so angewiesen auf das Judentum? Religionsgeschichtlich ist die Beziehung zwischen Tora und Neuem Testament wohl nicht auf die Formel von „ursprünglich“ und „sekundär“ zu bringen. Der Nachweis der Erfüllung der alten Prophezeiungen findet sich bei Paulus, den Evangelisten und den Patristikern. Erfüllung aber bedeutet Abschluss und Neubeginn. 24 Die Autoren der Josephus -Trilogie und des Vergil -Romans veranschaulichen eher die dialogischen als die exzentrischen Beziehungen von Komponenten, die in die europäische Kulturmischung eingegangen sind.
II. Kontext: „Anima naturaliter Christiana“ – Erweiterung des Ethik-Konzepts
Auch Dante verstand Vergils Dichtungen – und besonders die Aeneis – als Ausdruck einer „anima naturaliter Christiana“. In einem Selbstkommentar von 1942 zu seinem Roman hat Hermann Broch (im Sinne Haeckers) Dante als einen Dichter bezeichnet, der Vergil als den „ahnenden Künder des Christentums“ (KW 4, 467) verstanden habe. Die partielle Identifikation von Broch mit Dante hatte nicht zuletzt mit dem gemeinsamen Schicksal von Vertreibung und Exil zu tun. Das Motto aus dem „Inferno“, das Broch seinem Roman voranstellte, ist ein Hinweis auf den Subtext von Dantes Commedia. 25
Haeckers Erinnerung an Vergil als „anima naturaliter Christiana“ hat Broch nicht einfach übernommen, sondern angereichert. Dabei ist es ihm besonders um die Individualisierung von Freiheit und Menschenwürde zu tun, woraus die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei folgt. Parallel zum Vergil-Roman hat Broch in den frühen 1940er Jahren an seiner Massenwahntheorie (KW 12) gearbeitet. In ihr erkannte der Autor, dass in Hitlers Staat eine „neue Sklavenschicht“ im Entstehen begriffen war (KW 12, 40). Im nationalsozialistischen Deutschland sei der Zustand der „Vollversklavung“ für Juden und politische Gegner bereits eingetreten. Ihr konkreter Ausdruck wie ihr „Symbol“ sei das „Konzentrationslager“ (KW 12, 468). Wenn Broch das Konzentrationslager beschreibt, nimmt er Formulierungen vorweg, die sich ein halbes Jahrhundert später in Giorgio Agambens Studien 26 finden. Broch schreibt:
Das Konzentrationslager ist die letzte Steigerung [...] jeder Versklavung. Der Mensch wird seines letzten Ich-Bewußtseins entkleidet; statt seines Namens erhält er eine Nummer und soll sich auch nur mehr als Nummer fühlen. Er ist zur Leiche geworden, bevor er noch gestorben ist [...]; der magische Gott der Versklavung ist [...] ein Aasfresser, der zehntausende, hunderttausende von Leichen braucht und auch nach Millionen noch unbefriedigt bleibt, der Nimmersatt, dem Hitler diente und mit dem er sich identifizierte [...]. Dies ist die Magie-Religion der Versklavung, und Hitlers Schatten geht in jedem Totalitärstaat um. (KW 12, 485).
Nach Broch ist man nur mit Hilfe des „Menschenrechts“ in der Lage, „Versklavung“ als „Rechtswidrigkeit“ (KW 12, 508) zu definieren. Die Menschenrechte, meinte er, müssten international anerkannt werden und global einklagbar sein. In der „Massenwahntheorie“ fasst Broch zusammen: „Der Satz von der unbedingten Verwerflichkeit der menschlichen Versklavung“ habe „als ‚irdisch absolut‘“ zu gelten und sei „an die Spitze des empirischen Menschenrechtes“ zu stellen (KW 12, 472). Er forderte die Etablierung eines internationalen Gerichtshofes für Menschenrechte, der den Vereinten Nationen, der UNO, zugeordnet werden solle (KW 11, 390).
Auch im Tod des Vergil steht das Thema der Versklavung im Vordergrund. Gleich zu Beginn seines Romans schildert Broch den Arbeitsalltag der Sklaven in der Hafenstadt Brundisium:
[...] die [..] Sklaven [waren] in langer Schlangenreihe [...] wie Hunde paarweise mit Halsringen und Verbindungsketten aneinandergekoppelt [...]. [D]ie beaufsichtigenden Schiffsmeister [schwangen] [...] auf gut Glück die kurze Geißel über die vorbeiziehenden Leiber, ohne Wahl und einfach drauflos, hinschlagend mit der sinnlosen [...] Grausamkeit uneingeschränkter Macht, bar jedes eigentlichen Zweckes, da die Leute ohnehin hasteten, was ihre Lungen hergaben, kaum mehr wissend, wie ihnen geschah [...]. (KW 4, 26)
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