Hermann Broch - Die Schlafwandler

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"Die Schlafwandler" ist die Trilogie über den Zerfall gesellschaftlicher Werte. Die Handlungen der drei personell miteinander verwobenen Teile reichen vom Beginn bis zum Ende des wilhelminischen Zeitalters. Der erste Teil beginnt 1888 und dreht sich um einen jungen preußischen Offizier, der zweite 1903 um einen luxemburgischen Buchhalter und der dritte 1918 um einen elsässischen Weinhändler. Jeder von ihnen ist ein Schlafwandler, der zwischen verschwindenden und aufkommenden ethischen Systemen lebt. Zusammen ergeben sie ein Panorama der deutschen Gesellschaft und ihres fortschreitend Werteverfalls, der in der Niederlage und dem Zusammenbruch am Ende des Ersten Weltkriegs gipfelte
Hermann Broch (1886 – 1951) war ein österreichischer Schriftsteller. Mit der Romantriologie «Die Schlafwandler» zum Zerfall der Werte und der Persönlichkeit verfasste er Anfang der 1930er-Jahre eines der wichtigsten Werke des europäischen modernen Romans. Sein Schaffen ist durch die Einführung neuer Stilelemente, Forschungen oder Träume in seinem Werk gekennzeichnet. 1927 entschied er sich für ein Studium der Mathematik, Philosophie und Psychologie an der Universität Wien. Im Alter von 40 Jahren begann er seine literarische Karriere. Kurz vor seinem Tod erschien 1950 sein letzter Roman «Die Schuldlosen».

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Hermann Broch

Die Schlafwandler

e-artnow, 2021

Kontakt: info@e-artnow.org

EAN 4066338119629

Inhaltsverzeichnis

Der erste Roman Pasenow oder die Romantik Der erste Roman Pasenow oder die Romantik Inhaltsverzeichnis I II III IV

Der zweite Roman Esch oder die Anarchie

Der dritte Roman Huguenau oder die Sachlichkeit

Der erste Roman

Pasenow oder die Romantik

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Der erste Roman Pasenow oder die Romantik Der erste Roman Pasenow oder die Romantik Inhaltsverzeichnis I II III IV Der zweite Roman Esch oder die Anarchie Der dritte Roman Huguenau oder die Sachlichkeit

I

II

III

IV

I

Inhaltsverzeichnis

Im Jahre 1888 war Herr v. Pasenow siebzig Jahre alt, und es gab Menschen, die ein merkwürdiges und unerklärliches Gefühl der Abneigung verspürten, wenn sie ihn über die Straßen Berlins daherkommen sahen, ja, die in ihrer Abneigung sogar behaupteten, daß dies ein böser alter Mann sein müsse. Klein, aber von richtigen Proportionen, kein hagerer Greis, aber auch kein Fettwanst: er war sehr richtig proportioniert, und der Zylinder, den er in Berlin aufzusetzen pflegte, wirkte durchaus nicht lächerlich. Er trug den Bart Kaiser Wilhelms I., doch kürzer geschoren, und an seinen Wangen war nichts von der weißen Wolle zu bemerken, die dem Herrscher das leutselige Aussehen verlieh; sogar das Haupthaar, kaum gelichtet, .wies bloß einige weiße Fäden auf; trotzseiner siebzig Jahre hatte es sich die Blondheit seiner Jugend erhalten, jenes rötliche Blond, das an faulendes Stroh erinnert und einem alten Manne, den man sich lieber mit würdigerer Behaarung dächte, eigentlich nicht ansteht. Aber Herr v. Pasenow war an seine Haarfarbe gewöhnt, und auch das Einglas erschien ihm keineswegs zu jugendlich. Sah er in den Spiegel, so erkannte er jenes Gesicht wieder, das ihm dort vor fünfzig Jahren entgegengeblickt hatte. Und war Herr v. Pasenow solcherart mit sich nicht unzufrieden, so gibt es eben doch Menschen, denen das Äußere dieses alten Mannes mißfällt und die es auch nicht begreifen, daß je eine Frau sich gefunden hatte, die diesen Mann mit begehrenden Augen betrachtet haben sollte, ihn begehrend umfing, und sie werden ihm höchstens die polnischen Mägde auf seinem Gute zugestehen und daß er sich ihnen mit jener etwas hysterischen und doch herrischen Aggression genähert haben dürfte, die kleinen Männern öfters eigentümlich ist. Mochte dies stimmen oder nicht, es war jedenfalls die Meinung seiner beiden Söhne, und es versteht sich, daß er diese Meinung nicht geteilt hätte. Auch ist die Meinung von Söhnen oft subjektiv, und es wäre leicht, ihnen Ungerechtigkeit und Befangenheit vorzuwerfen, trotzdes etwas unbehaglichen Gefühles, das einen selber beim Anblick des Herrn v.Pasenow überkommen mag, merkwürdiges Unbehagen, das sich noch steigert, wenn Herr v. Pasenow vorbeigegangen ist und man ihm zufällig nachschaut. Vielleicht liegt es daran, weil einem dann das Alter des Mannes völlig ungewiß wird, denn er bewegt sich weder greisenhaft noch wie ein Jüngling, noch wie ein Mann in guten Jahren. Und weil Zweifel Unmut erzeugt, ist es nicht unmöglich, daß einer der Passanten diese Fortbewegungsart als würdelos empfindet, und wenn er sie dann als überheblich und kommun beschimpft, als schwächlich draufgängerisch und aufgetrumpft korrekt, so ist es kein Wunder. Das ist natürlich Temperamentsache; doch man kann sich ganz gut vorstellen, daß ein vom Haß verblendeter junger Mensch zurückeilen möchte, um dem, der so geht, einen Stock zwischen die Beine zu stecken, ihn irgendwie zu Fall zu bringen, ihm die Beine zu brechen, solche Gangart für immer zu vernichten. Jener aber geht sehr raschen Schrittes und geradlinig, den Kopf trägt er hoch, wie kleine Leute es zu tun pflegen, und da er sich eben auch sehr gerade hält, streckt er seinen kleinen Bauch ein wenig vor, man könnte fast sagen, daß er ihn vor sich hertrage, ja daß er damit seine ganze Person irgendwohin trage, ein häßliches Geschenk, das niemand will. Allein da mit einem Gleichnis noch nichts erklärt ist, bleiben solche Beschimpfungen haltlos, und vielleicht schämt man sich ihrer, bis man den Spazierstock neben den Beinen entdeckt. Der Stock geht taktmäßig, hebt sich fast bis zur Kniehöhe, verweilt mit einem kleinen harten AufschlagamBoden und hebt sich wieder, und die Füße gehen daneben. Und auch diese heben sich mehr als sonst üblich, die Fußspitze geht etwas zu weit nach aufwärts, als wollte sie in Verachtung der Entgegenkommenden ihnen die Schuhsohle zeigen, und der Absatz wird mit einem kleinen harten Aufschlag auf das Pflaster gesetzt. So gehen Beine und Stock nebeneinander, und nun taucht die Vorstellung auf, daß der Mann, wäre er als Pferd zur Welt gekommen, ein Paßgänger geworden wäre; aber das Schrecklichste und Abscheulichste daran ist, daß es ein dreibeiniger Paßgang ist, ein Dreifuß, der sich in Bewegung gesetzt hat. Und furchtbar der Gedanke, daß diese dreibeinige Zielgerichtetheit so falsch sein muß wie diese Geradlinigkeit und dieses Vorwärtsstreben: auf das Nichts gerichtet! Denn so geht keiner, der Ernsthaftes beabsichtigt, und wenn man auch einen Augenblick an einen Wucherer denken muß, der zur harten Schuldeintreibung in die Wohnung des Armen sich trägt, so weiß man doch sogleich, daß dies viel zu wenig und viel zu irdisch wäre, entsetzt von der Erkenntnis, daß so der Teufel schlendert, ein Hund, der auf drei Beinen hinkt, daß dies ein geradliniges Zickzackgehen ist,... genug; dies alles kann man nämlich herausfinden, wenn man den Gang des Herrn v. Pasenow mit liebevollem Haß zergliedert. Aber schließlich kann man solches bei den meisten Menschen versuchen. Immer stimmt irgend etwas. Und wenn Herr v. Pasenow auch keine gehetzte Lebensweise führte, vielmehr reichlich Zeit zur Erfüllurig der dekorativen und sonstigen Verpflichtungen verwendete, die ein ruhig-gesichertes Vermögen mit sich bringt, so war er- und dies entspricht auch seiner Wesensart- in alledem geschäftig, und eigentliches Schlendern lag ihm ferne. Und kam er zweimal des Jahres nach Berlin, so hatte er vollauf zu schaffen. Jetzt befand er sich auf dem Wege zu seinem jüngeren Sohn, dem Premierleutnant J oachim v. Pasenow.

Immer wenn J oachim v. Pasenow mit seinem Vater zusammentraf, stiegen Jugenderinnerungen auf, das verstand sich nur von selbst, doch vor allem wurden die Ereignisse wieder lebendig, die seinem Eintritt in die Kadettenanstalt Culm vorangegangen waren. Es waren allerdings nur Bruchstücke von Erinnerungen, die da flüchtig emportauchten, und regellos floß Wichtiges und Unwichtiges durcheinander. So ist es wohl völlig unwichtig und überflüssig, den Schaffer Jan zu erwähnen, dessen Bild, obwohl er doch eine ganz nebensächliche Figur war, sich vor alle anderen Bilder schob. Dies mag daher rühren, daß Jan eigentlich kein Mensch, sondern ein Bart war. Stundenlang konnte man ihm zuschauen und darüber nachdenken, ob hinter der struppigen Landschaft voll undurchdringlichen, wenn auch weichen Gebüsches ein menschliches Wesen hause. Selbst wenn Jan sprach- aber er sprach nicht viel-, war man dessen nicht sicher, denn die Worte entstanden hinter dem Barte wie hinter einem Vorhang, und ebensowohl hätte es ein anderer sein können, der sie sprach. Am spannendsten war es, wenn Jan gähnte: dann klaffte die haarige Fläche an einer vorbestimmten Stelle auf, dartuend, daß dies auch der Ort sei, wo J an Speise in sich einzuführen pflegte. Als Joachim zu ihm gelaufen kam, um ihm seinen bevorstehenden Eintritt in die Kadettenanstalt zu erzählen, war er gerade beim Essen, saß dort, schnitt Brotwürfel und hörte schweigend zu. Endlich sagte er: »Nun ist der Jungherr wohl recht froh?« Und da war es Joachim zu Bewußtsein gekommen, daß er gar nicht froh war; gerne hätte er sogar geweint, aber da kein unmittelbarer Anlaß dazu vorlag, hatte er bloß genickt und hatte gesagt, daß er sich freue.

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