Pasenow nahm eine Droschke, um nach Westend zum Rennen zu fahren. Der Rheinwein, die Hitze des Nachmittags und wohl auch die Sonderbarkeit dieses Zusammentreffens ließen hinter der Stirn und unter den Schädelknochen - gerne hätte er die steife Mütze abgenommen- ein dunkles und brüchiges Gefühl zurück, nicht viel anders als das Leder des Sitzes, das er durch den weißen Handschuh hindurch mit den Fingerspitzen fühlte, ein wenig klebrig sogar, so sehr brannte die Sonne darauf. Es tat ihm leid, daß er Bertrand nicht eingeladen hatte mitzufahren und er war froh, daß wenigstens der Vater nicht mehr in Berlin weilte, denn der wäre sonst sicherlich hier neben ihm gesessen. Andererseits war er doch recht froh, daß Bertrand im Zivilanzug ihn nicht begleitet hatte. Aber vielleicht will ihn Bertrand überraschen, holt Ruzena ab und sie alle werden sich draußen auf dem Rennplatz treffen. Wie eine Familie. Aber das ist ja alles Unsinn. Mit so einem Mädchen würde sich nicht einmal Bertrand auf dem Rennplatz zeigen.
Als wenige Tage darauf Kamerad Leindorff Besuch seines alten Herrn empfing, war es für Pasenow wie ein Befehl des Himmels, das Jägerkasino aufzusuchen, damit er dem alten Leindorff, den er schon mit geradlinigem, geschäftigem Schritt die schmale Treppe dort hinaufsteigen sah, zuvorkomme. Er fuhr im Regimentswagen nach Hause und bekleidete sich mit dem Zivilgehrock. Dann machte er sich auf den Weg. An der Ecke begegnete er zwei Soldaten; er wollte schon lässig zum Mützenrand greifen, um ihren Gruß zu erwidern, da merkte er, daß sie ihn gar nicht gegrüßt hatten und daß er statt der Mütze den Zylinder trug; das alJes war irgendwie ungereimt und er mußte sogar lächeln, weil es so absurd war, daß der alte halbgelähmte Graf Leindorff, der an nichts anderes als an seine ärztlichen Konsultationen dachte, sich heute ins Jägerkasino begeben solJte. Am klügsten wäre es wohl, einfach umzukehren, aber da er dies jeden Augenblick tun konnte, hatte er ein kleines Freiheitsgefühl und ging weiter. AIIerdings wäre er lieber in die Vorstadt hinausgewandert, um den GemüsekelJer mit der rauchigen Petroleumlampe an der Mauer wiederzusehen; aber er konnte doch nicht in Gehrock und Zylinder im Norden draußen promenieren. Da draußen war der Abend wohl auch heute so zauberhaft verdämmert wie damals, doch hier im eigentlichen Zentrum der Stadt schien alJes der Natur feindlich zu sein, über dem lärmenden Licht und über den vielen Schaufenstern und dem bewegten Leben der Straße waren selbst der Himmel und seine Luft so sehr städtisch und so heimatsferne, daß es zu einem beglückenden und beruhigenden, dennoch beunruhigenden Heimfinden wurde, als er ein kleines Weißwarengeschäft entdeckte, das in schmalen Fensterehen Spitzen, Rüschen, angefangene Handarbeiten mit blauem Vordruck aussteiJte, und als er die Glastüre sah, die im Hintergrund des Ladens offenbar in einen Wohnraum führte. Hinter dem Verkaufstisch saß eine weißhaarige Frau, beinahe damenhaft, neben ihr ein junges Mädchen, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, beide mit Handarbeiten beschäftigt. Er betrachtete die Waren in der Auslage und überlegte, ob man Ruzena mit solchen Spitzentüchlein nicht eine herzliche Freude bereiten könnte. AIIein auch dies dünkte ihn wieder absurd und er ging weiter; bei der nächsten Querstraße aber kehrte er zu dem Laden zurück, getrieben von dem Wunsche, das abgewandte Gesicht des Mädchens zu sehen; er erstand drei zarte Tücher, ohne sie eigentlich für Ruzena zu bestimmen, so aufs Geratewohl und beglückt, auch der alten Dame mit dem Einkauf Freude zu machen. Das Mädchen aber hatte ein gleichgültiges Gesicht, ja es schaute fast böse drein. Dann ging er nach Hause.
Im Winter, zur Zeit der Hoffestlichkeiten, die eine uneingestandene Hoffnung der Baronin waren, im Frühling, zur Zeit der Rennen und der Sommereinkäufe, bewohnte die Familie Baddensen ein schmuckes Haus im Westend, und an einem Sonntagvormittag stattete Joachim v. Passenow den Damen seinen Besuch ab. Selten kam er in diese entlegene Villengegend, die nach dem Muster der englischen Cottages sich rasch hier ausdehnte, obwohl bloß begüterte Familien, die eine ständige Equipage ihr eigen nannten, hier wohnen konnten, ohne des Nachteils der großen Entfernung zur Stadt allzusehr gewahr zu werden. Aber für jene Bevorzugten, die den räumlichen Nachteil solcherart sich mildern durften, war der Aufenthalt ein kleines ländliches Paradies, und Pasenow, die gepflegten Straßen zwischen den Villen durchschreitend, war von der Vorzüglichkeit dieser Wohngegend angenehm und herzlich durchdrungen. Manches war in den letzten Tagen unsicher geworden und dies hing auf eine unerklärliche Weise mit Bertrand zusammen: es war irgendein Pfeiler des Lebens brüchig geworden, und wenn auch noch alles an seinem alten Platze stand, weil die Teile sich gegenseitig stützten, so war mit dem vagen Wunsche, daß auch das Gewölbe dieses Gleichgewichts noch bersten und die Stürzenden und Gleitenden unter sich begraben möge, zugleich die Furcht aufgekeimt, daß solches sich erfüllen werde, und es wuchs die Sehnsucht nach Festigkeit, Sicherheit und Ruhe. Nun, diese wohlhabende Villengegend mit ihren schloßartigen Gebäuden in trefflichstem Renaissance-, Barock- oder Schweizerstil, umgeben von wohlgepflegten Gärten, aus denen man das Harken der Gärtner, den Strahl des Gartenschlauches, das Plätschern der Fontänen vernahm, strömte große und insulare Sicherheit aus, so daß man Bertrands Prophezeiung, daß auch für England noch nicht aller Tage Abend sei, wirklich kaum glauben konnte. Aus offenen Fenstern tönten Etüden von Stephen Heller und von Clementi: wohlgeborgen können die Töchter dieser Familien ihren Studien nachgehen; gutes Geschick der Sicherheit und der Sanftheit, von Freundschaft erfüllt, bis Liebe die Freundschaft ablöst und die Liebe wieder in Freundschaft verklingt. Von ferne, nicht von allzu ferne her krähte ein Hahn, als wollte auch er die Ländlichkeit dieses gepflegten Aufenthaltes andeuten: ja, wäre Bertrand auf der Scholle aufgewachsen, so würde er nicht Unsicherheit verbreiten, und hätte man ihn selbst in der Heimat gelassen, so wäre er für die Unsicherheit nicht empfänglich geworden. Schön wäre es, mit Elisabeth durch die Felder zu gehen, das reifende Korn zwischen die prüfenden Finger zu nehmen und abends, wenn der schwere Geruch der Ställe vom Winde herübergetragen wird, den sauber gekehrten Hof zu durchqueren, um nach dem Melken zu sehen. Dann stünde Elisabeth dort zwischen den großen rustikalen Tieren, viel zu schmal für die Gewichtigkeit dieser Umwelt, und was bei der Mutter bloß natürlich und heimatlich war, das wird bei ihr rührend und heimatlich zugleich. Aber zu alldem war es für ihn ja zu spät, für ihn, den man zum Fremdling gemacht hatte, und er ist- nun fiel es ihm ein - heimatlos wie Bertrand.
Nun umfing ihn Geborgenheit des Gartens, dessen Zäune durch Hecken verdeckt waren. Und die Geborgenheit dieser Natur war noch dadurch erhöht, daß sich die Baronin einen der Plüschfauteuils aus dem Salon in den Garten hatte bringen lassen: der stand da wie etwas Exotisches und Wärmebedürftiges mit seinen gedrechselten Füßen und den heräderten Hufen auf dem Gartenkies und lobte die Freundlichkeit des Klimas und der zivilisierten Natur, die ihm solchen Verbleib gestattete; seine Farbe aber war die einer verwelkenden schwarzroten Rose. Elisabeth und Joachim saßen auf den eisernen Gartenstühlen, deren Blechsitze gleich erstarrten Brüsseler Spitzen mit Sternen durchbrochen waren.
Nachdem man die Vorzüge dieser Wohngegend, die besonders jenen zustatten komme, die das ländliche Leben gewohnt seien und es lieben, genugsam erörtert hatte, wurde Joachim nach seinem Leben in der Residenz befragt, und er konnte nicht umhin, seine Sehnsucht nach dem Lande zu äußern und auch zu begründen. Er fand bei den Damen volle Zustimmung; insbesondere die Baronin beteuerte stets von neuem, daß sie, er möge nicht staunen, oft tage-, ja wochenlang nicht ins Stadtzentrum käme, so sehr ängstige, ja ängstige sie der Trubel, der Lärm und der gigantische Verkehr. Nun, meinte Pasenow, hier hätten sie ja ein wahres Refugium, und das Gespräch bewegte sich wieder einige Zeit im Fahrwasser dieser bevorzugten Wohngegend, bis die Baronin, als wollte sie ihm eine frohe Überraschung bereiten, geheimnisvoll fast, ihm mitteilte, daß ihnen das Häuschen, das sie so liebgewonnen hatten, zum Kaufe angeboten worden sei. Und in der Vorfreude des Besitzes forderte sie ihn auf, das Häuschen doch anzusehen, Je tour du proprietaire zu machen, wie sie mit ein wenig Verschämtheit und Ironie hinzufügte.
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