In der Mitte von Brochs Roman kommt der Erzähler erneut auf das Elend der Sklaven zu sprechen, wenn Vergil eine „Menge“ beobachtet, die „jubelnd vor Lust, ein Kreuz umdrängte, an das schmerzbrüllend, schmerzwimmernd, ein unbotmäßiger Sklave angenagelt“ war, ein Anblick, der die apokalyptische Vision vom Ende des antiken Roms evoziert:
[...] und er sah, wie der Kreuze mehr und mehr wurden, wie sie sich vervielfältigten, fackelumzüngelt, flammenumzüngelt, ansteigend die Flammen aus dem Geprassel des Holzes, aus dem Geheul der Menge, ein Flammenmeer, das über die Stadt Rom zusammenschlug, um abebbend nichts zurückzulassen als geschwärzte Ruinen, zerborstene Säulenstümpfe, gestürzte Statuen und überwuchertes Land. (KW 4, 234)
Der erinnerten Realität der „Tragsklaven“ (KW 4, 34) und dem imaginierten Untergang Roms stehen hoffnungsvolle Traumgesichte des sterbenden Vergil gegenüber. In ihnen bildet sich die „Stimme“ eines Sklaven heraus. Der Sklave in den Fieberphantasien des Brochschen Vergil ist keine im Kontext des Romans als real vorzustellende Person wie etwa Augustus oder der Dichterfreund Plotius Tucca. Der Sklave artikuliert neue ethische Vorstellungen, die sich im Bewusstsein des sterbenden Autors formen. Es artikuliert sich eine innere Stimme der Hoffnung auf eine Zeitenwende, in der sich die Wertmaßstäbe Roms verkehren. In seinen politischen Schriften hält Broch fest, dass „das Christentum“ anfänglich eine „Sklavenreligion“ war, „vielfach verbunden mit einer ausgesprochenen [...] Non-Resistance-Bewegung“ (KW 12, 479). Dem Sklaven in Brochs Roman ist die „Gnade“ zu teil geworden, „den Bruder im Bruder zu wissen“. „Held“ sei nicht, wer „mit klirrender Waffengewalt“ auftrumpfe, sondern derjenige, „der die Entwaffnung erträgt“ (KW 4, 252). Die Stimme des Sklaven weist Vergil die Position zwischen den Epochen zu: „Du sahest den Anfang, Vergil, bist selber noch nicht der Anfang, du hörtest die Stimme, Vergil, bist selber noch nicht die Stimme: [...] noch nicht und doch schon, dein Los an jeder Wende der Zeit“ (KW 4, 253). Vergils besondere kulturhistorische Stellung als „anima naturaliter Christiana“ zwischen den Epochen wird durch die Formel „noch nicht und doch schon“ unterstrichen.
In seinen Fieberträumen hört Vergil das Gebet des Sklaven, das christliche Erwartungen ausspricht und Bildsymbole der Evangelisten benutzt: „Unbekanntester, Unerschaubarster, Unaussprechlichster [...]. Löwe und Stier sind zu Deinen Füßen gelagert, und der Adler schwebt auf zu Dir. [...] Du schickst den aus zum Heile, der sich nicht auflehnt.“ (KW 4, 253) Der Engel wird nicht eigens erwähnt, wenn die Bildsymbole der Evangelisten genannt werden, aber die Stimme des Sklaven selbst steht für den Engel, der als „Mittler“ zu dem bezeichnet wird, „der den Ruf empfangen“ (KW 4, 399) soll. In den religiösen Kontext gehört auch das Bekenntnis des Sklaven: „wir werden auferstehen im Geiste“ (KW 4, 346). Die Sklavenstimme deutet nicht nur auf den neuen Glauben hin, der die kommende Kulturepoche Roms bestimmen wird, sondern markiert auch einen revolutionären politischen Kurswechsel: Abgewertet wird die soziale Ordnung des cäsaristischen Roms, wenn „der Staat“ als „lächerlich und irdisch“ (KW 4, 342) bezeichnet wird gegenüber dem „Ewigen“ des Glaubensreiches, das „ohne Tod“ sei (KW 4, 344). In den Fiebervisionen erteilt der Sklave dem Cäsar Augustus „die Erlaubnis zum Sprechen“ (KW 4, 389), und die Verkehrung der Rolle von Herr und Knecht ist evident, wenn der Cäsar als verelendeter Sklave geschildert wird. Da heißt es: „Nun erhob sich der Augustus von seinem Lumpenlager; er wankte unsicheren Schrittes daher, an seinem Halsring baumelte [...] ein Kettenende“. Vergil sieht den „zwergig“ gewordenen „Cäsar“ ins „Nichts“ schrumpfen (KW 4, 397).
Das sind Fieberphantasien, und man könnte sie in einem Zusammenhang mit den Saturnalien im antiken Rom sehen, bei denen – mit Bachtin 27 zu sprechen – „karnevalistisch“ die Standesunterschiede aufgehoben und die Rollen von Herren und Knechten vertauscht werden. Augustus verweist in Brochs Roman während seines Gesprächs mit Vergil die „Freiheit“ des Staatsbürgers auf den befristeten Zeitraum der „Saturnalien“ (KW 4, 342). Das sieht Vergil anders. Er formuliert sein Testament um, dessen Neuerung in der Freilassung seiner Sklaven besteht. Der Cäsar weiß die Geste seines Autors nicht zu würdigen, wenn er feststellt, dass zur „Wirklichkeit Roms“ der Sklavenstand gehöre. Er habe zwar „das Los der Sklaven gebessert“, aber „der Wohlstand des Reiches“ benötige „Sklaven“, die „sich in diese Wirklichkeit einzuordnen“ hätten. Gegen jene, die „die Ordnung trotzig zu stören wagen“, müsse „hart“ vorgegangen werden (KW 4, 346), wobei er an das Schicksal des Spartacus erinnert. Vergil bleibt aber bei seinem Vorsatz, den der Cäsar zwar missbilligt, aber als Ausnahme genehmigt. So enthält denn das zweite Testament des Vergil, das es – wohlgemerkt – nur in Brochs Roman gibt, 28 die zusätzliche Klausel: „Der Erlaubnis des Augustus gemäß, bin ich befugt meine Sklaven freizulassen; dies soll sofort nach meinem Ableben geschehen, und jeder dieser Sklaven hat für jedes Jahr, das er in meinen Diensten verbracht hat, ein Legat von hundert Sesterzen ausbezahlt zu erhalten.“ Im Tod des Vergil ist von einem „ersten“ und einem zweiten „Testament“ die Rede, wobei man erfährt, dass das „erste [...] ungeschmälert in Kraft“ bleibe (KW 4, 410). Hier wird auf das alte und das neue Testament der christlichen Religion angespielt, nach der das „alte“ ebenfalls Gültigkeit behält.
III. Kontext: Tod, Ruhm und Unsterblichkeit
Schaut man Brochs Schriften zur Ästhetik und Philosophie durch, stößt man oft auf Stellen, die seine Beschäftigung mit den Themen Tod, Ruhm und Unsterblichkeit belegen. „Jede Philosophie zielt auf den Unsterblichkeitsgedanken“ (KW 9/1, 353), heißt es da. Oder: „Die Geschichte ist noch nicht die absolute Unsterblichkeit“ (KW 9/2, 155). Broch hielt viel von Sigmund Freuds Psychoanalyse, doch war er kein unkritischer Anhänger der Freudschen Theorien und in der Auffassung vom Tod wich er von ihnen ab. Das hing mit einem unterschiedlichen Kulturverständnis zusammen. Kulturelle Aktivität ist bei Broch nicht primär als Triebsublimierung, sondern als etwas anthropologisch Grundsätzlicheres zu verstehen: „Denn die Natur des Menschen ist seine Kultur“, schreibt Broch (KW 9/2, 62). 29 Die Absolutheit der Natur sei dem Menschen durch das Bewusstsein seiner Endlichkeit, seines Todes, präsent (KW 9/2, 125). Kultur sei zu verstehen als „die Absolutheit des Lebenswertes, die der Absolutheit des Todes entgegengesetzt“ werde (KW 9/2, 126), d.h. die Auflehnung des Lebens gegen den Tod. „Das Antlitz des Todes ist der große Erwecker!“ (KW 9/2, 124) hielt Broch fest. 30 Die „religiösen Wertsysteme“ (KW 9/2, 130) der Menschheitskultur hätten „die absolute Befreiung vom Tode“ (KW 9/2, 125–130) angestrebt. Das „christlich-platonische Weltbild des Mittelalters“ habe in diesem Sinne ein „unendliches Wertziel“ (KW 9/2, 145) gekannt. Der europäischen Moderne sei jedoch die Orientierung auf ein „unendliches Wertziel“ abhanden gekommen, da jedes Partialsystem seine profanen Wertziele verabsolutiere.
In einem Selbstkommentar zum Tod des Vergil betonte Broch, dass „Unendlichkeits- und Todeserkenntnis“ im „Mittelpunkt seines Werkes“ stehen (KW 4, 494). 31 In diesem Roman wird „Dichtung“ mit „Todeserkenntnis“ (KW 4, 77) bzw. „Erkenntnis des Todes“ (KW 4, 301) gleichgesetzt. Der Rat, den die Stimme des Sklaven Vergil erteilt, lautet: „[B]egreife im Leben den Tod, auf daß er dein Leben erhelle“ (KW 4, 251). Dem Roman liegt eine ethisch orientierte Ästhetik zugrunde, die auf die Ablehnung jener Kunst hinausläuft, die die Forderung nach „Todeserkenntnis“ nicht erfüllt. Zu den falschen Zielen der Kunst gehöre der „Ruhm“ als „irdische Unsterblichkeit“ (KW 4, 232). 32 Die selbstkritischen Äußerungen Vergils über die Aeneis haben damit zu tun, dass er Konzessionen an den Ruhm des Imperiums gemacht habe. Die untergehende Kulturepoche des Augustus habe er fälschlich als zukunftsträchtig, ja als Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters mit dem Kaiser als Heilsbringer gelobt. Vergils Abneigung gegen sein Hauptwerk geht so weit, dass er dessen Vernichtung erwägt, es „verbrannt“ sehen möchte (KW 4, 167). 33 Die Freunde Vergils und vor allem Augustus sind in Vorstellungen von Ruhm als irdischer Unsterblichkeit befangen. „Bloß die Lüge ist Ruhm, nicht die Erkenntnis!“ (KW 4, 15) hält Vergil in strenger Entgegensetzung fest. Unerträglich wird dem Autor das Gespräch mit Augustus, der die Aeneis zur Glorifikation seiner Amtszeit gerettet und veröffentlicht sehen will. Da heißt es: „Der Cäsar war ruhmsüchtig, immer wieder sprach er vom Ruhm“ (KW 4, 308). Wegen Vergils Absicht, die Aeneis zu verbrennen, kommt es zu einem Wutausbruch Octavians. 34 Eingedenk der alten Verbundenheit, die bis in die gemeinsam verbrachten Kindheitstage zurückreicht, schenkt Vergil schließlich Augustus das Manuskript der Aeneis. Das ist ein Zeichen der Freundschaft und der Versöhnung. Der Autor ist sich aber auch bewusst, dass die Aeneis in jeder Hinsicht dem Augustus – als Repräsentanten einer überholten Kultur – gehört. Eigentlich, so meint Vergil, hätte er das Werk zerstören, es als „Opfer“ (KW 4, 361, 363) darbringen sollen, ein Opfer im Dienst einer neuen, nur erahnten Religion. Im Gespräch mit Augustus hat Vergil die Grenzen von Macht und Politik benannt, die der religiösen und damit kulturellen Wiedergeburt gewiesen sind. Aber gleichzeitig hat er auch die Schranken bezeichnet, die für „Kunst“ und „Philosophie“ (KW 4, 323) gelten, wenn es um das Erkennen des „Heilbringers“ (KW 4, 358) als des „Erlösers“ (KW 4, 360) geht: Die Funktion der Religionsstiftung können sie nicht übernehmen.
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