Es quietschte wieder.
In dem Moment, in dem sie hörte, wie die Speichertür aufgezogen wurde, sprang sie. Bevor sie in der Öffnung des Gestells landete, glitt ihr Blick nach oben. Sie erschrak. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich umgedreht und wäre zurückgelaufen, selbst wenn sie in Agaskars Armen gelandet wäre.
Über der Öffnung hatte sie zwei große Kreise glühen sehen. In der Mitte jeweils ein senkrechter Strich.
Wie Katzenaugen.
Schlangenaugen.
Augen.
Die zwei Hubbel, die sie vorhin ertastet hatte, waren Augen. Geschlossene Augen, die sich nun geöffnet hatten.
„Was ist das hier?“, fragte sich Mäuse-Mina.
Aber es war zu spät. Sie landete in der Höhlung, und alles wurde dunkel.
Mäuse-Mina konnte nichts sehen, aber heftiger Wind brauste ihr in den Ohren. Ein Sog erfasste sie und zog sie nach vorn. Vergeblich versuchte sie, sich dagegen zu stemmen. Stolpernd geriet sie immer weiter in die Dunkelheit, und es schien leicht abwärts zu gehen.
„Hier muss doch die Wand sein!“, dachte sie. Das Ding stand doch direkt an der Wand!
Ihr wurde schwindlig. Sie glaubte, in einen tiefen schwarzen Abgrund zu fallen.
„Hannes!”, rief sie. Doch der Wind übertönte ihre Stimme, nahm sie ihr einfach weg, jonglierte ein wenig damit herum und ließ sie dann in seiner Tasche verschwinden wie ein Zauberkünstler.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie von dem saugenden Wind nach vorn gerissen wurde. Es schien ewig zu dauern. Wenn man in ein schwarzes Loch fällt, das es nicht geben darf, ist jede Sekunde zu lang. Sie überlegte, wie lange es dauern mochte, solch einen Gedanken zu denken. Einen Herzschlag lang? Sie versuchte ihre Herzschläge zu zählen. Oder ihre Gedanken. Sie kam durcheinander. Wusste nicht mehr, was was war.
„Wann hört das auf?”, schrie sie verzweifelt und gab dem Zauberkünstler noch mehr zum Spielen.
Viele Herzschläge oder Gedanken später wurde der Boden auf einmal uneben. Kleine Buckel und Vertiefungen machten das Laufen beschwerlich; mehrmals wäre Mäuse-Mina fast ausgerutscht, doch der Wind, der immer noch kräftig zog, verhinderte, dass sie hinfiel. Dann ließ er nach. So plötzlich, dass Mäuse-Mina stolperte und das Gleichgewicht verlor. Sie fiel nach vorn und landete auf etwas Weichem, das hektisch zappelte.
„Was ist das?”, hörte sie Hannes aufgeregt rufen. Er schlug wild um sich.
„Hör auf! Ich bin´s!”, rief sie. Sie hatte Mühe, den Fäusten des Jungen in der Dunkelheit auszuweichen. Ihre Stimmen klangen seltsam. Die Worte verebbten in flüsternden Echos.
Hannes beruhigte sich. Er suchte nach Mäuse-Minas Hand.
„Wo sind wir?”, fragte er kläglich.
Sie zuckte mit den Schultern, aber da Hannes das nicht sehen konnte, wurde er wieder unruhig.
„Du, Mäuse-Mina! Was ist mit dir? Bist du in Ordnung?”
„Mir geht´s gut”, brummte sie, obwohl sie beim Hinfallen ein paar Schrammen abbekommen hatte. Aber es schien nicht der richtige Augenblick, um sich darüber zu beklagen.
„Meinst du, wir sind in die Wand des Hauses gefallen?”, fragte Hannes. „Vielleicht ist sie hohl.”
„Quatsch”, sagte Mäuse-Mina. Ihr Herz schlug immer noch heftig, und sie versuchte damit aufzuhören, die Schläge zu zählen. Sie musste einen klaren Kopf bekommen. „Die ist doch nicht so dick, dass man darin herumlaufen könnte. Das wäre ziemlich eng gewesen. Um mich herum war jedenfalls gar nichts, nur dieser fiese Wind, der so gezogen hat.”
„Ja”, sagte Hannes. „Man konnte gar nicht anders, als nach vorn zu laufen.”
Sie schwiegen eine Weile.
„Aber was ist es dann?”, fragte Hannes schließlich. Seine Stimme zitterte ein wenig. „Hinter dem komischen Gestell war nur die Wand. Und dahinter nichts. Das Haus steht doch für sich. Das kann doch gar nicht sein.” Er drückte Mäuse-Minas Hand. Sie spürte, wie er schwitzte. „Oder?”
„Wenn das Ding Agaskar gehört”, sagte sie, „wundert mich gar nichts. Alles, was den betrifft, geht nicht mit rechten Dingen zu.”
„Du meinst, es ist Zauberei?”, fragte Hannes unsicher. „Wie die Lakritze?”
„Wahrscheinlich. Vielleicht ist das hier Agaskars Versteck. Wer weiß, was er hier aufbewahrt.”
„Wenn das so ist”, meinte Hannes, „sollten wir abhauen. Was ist, wenn er uns nachkommt?”
Mäuse-Mina stand auf. Hannes hatte Recht. Agaskar konnte jeden Augenblick hier auftauchen. Vielleicht hatte er noch gesehen, wie sie in der Öffnung verschwand, oder er wollte einfach nur nach dem Rechten sehen.
„Los!”, sagte sie. „Weg hier!”
Hannes erhob sich ebenfalls. „Aber wohin?”
Er ging ein Stück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Da zieht´s wieder”, sagte er. „Aber jetzt in die andere Richtung. Wollen wir zurückgehen?”
Mäuse-Mina tastete sich zu ihm hin. Sie spürte den Wind, der an ihr zerrte.
„Dann laufen wir ihm vielleicht direkt in die Arme.” Sie schauderte. Im Dunkeln von Agaskar geschnappt zu werden, war eine entsetzliche Vorstellung. „Besser, wir gehen nach vorne und warten ab, ob er kommt. Wir können später versuchen zurückzugehen.”
Sie drehten sich um und gingen in die Richtung, die von dem unheimlichen Wind wegführte. Nachdem sie eine Weile vorangeschritten waren, wurde die Schwärze um sie herum allmählich grau.
„Es wird heller!”, sagte Hannes. „Vielleicht ist da vorne ein Ausgang.”
Im Zwielicht erkannten sie graue Felswände neben sich. Sie glitzerten feucht, und zwischen den scharfen Kanten hing Moos. Im Windzug bewegte es sich ein wenig; es sah aus wie schleimige Haarbüschel.
„Das ist eine Höhle!”, rief Hannes. „Ob wir unter der Erde sind?”
„Da vorne ist Licht!”, sagte Mäuse-Mina.
Hannes rannte los, aber schon nach wenigen Schritten rutschte er auf dem glitschigen Steinboden aus und fiel der Länge nach hin.
Mäuse-Mina hockte sich neben ihn. „Was machst du denn? Wir müssen vorsichtig sein. Wir wissen doch gar nicht, was da vorne ist.” Sie half ihm auf. „Alles in Ordnung?”
Er trat vorsichtig auf. „Geht schon.”
Langsam näherten sie sich dem Licht und erkannten eine fast kreisrunde Öffnung.
„Scheint wirklich ein Ausgang zu sein”, sagte Mäuse-Mina.
Das Licht schimmerte grün und gelb.
„Da sind Bäume”, sagte Hannes, als sie nur noch wenige Schritte von der Öffnung entfernt waren. „Und die Sonne scheint.”
Sie standen am Höhlenausgang und schauten ungläubig nach unten. Vor ihnen lag eine Waldlichtung, umstanden von hohen Fichten und Föhren. Weiße und gelbe Blüten schaukelten sachte im Wind, als schwebten sie über dem Gras. Schmetterlinge flogen umher, Vögel zwitscherten, und über allem lag blendendes, warmes Sonnenlicht. Der Höhlenausgang befand sich in einer Felswand, zu deren Füßen die Lichtung lag. Grobe, verwitterte Steinstufen führten steil nach unten.
„Niemand zu sehen”, sagte Hannes, nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte. „Anscheinend liegt die Höhle im Inneren eines Felsens. Wir müssen weit außerhalb der Stadt sein.”
Mäuse-Mina befürchtete, dass sie sich weiter von ihrem Zuhause entfernt hatten, als sie sich vorstellen konnten. Auch wenn es nicht wirklich fremdartig aussah, etwas war anders. Trotz der Vögel und des Bienengesumms war es sonderbar still. Nicht einfach ruhig, weil gerade mal alle Geräusche aufgehört hatten, wie bei einer Straße, auf der ein paar Minuten lang keine Autos fuhren, und man wusste, es würde nicht anhalten. Hier war es auf eine dauerhafte Weise still. Es war der Normalzustand. Mäuse-Mina konnte es spüren und fand es unheimlich. Dieser Ort hatte all die Geräusche, die für sie alltäglich waren, niemals kennen gelernt.
Hannes deutete auf die Stufen. „Was ist? Gehen wir runter?”
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