„Das war noch nicht da, als ich zuletzt hier war”, sagte sie unsicher.
„Vielleicht gehört es Agaskar”, meinte Hannes. „Vielleicht bewahrt er hier seine Sachen auf.” Er machte die Tür des Abteils weiter auf und betrat es.
Mäuse-Mina folgte ihm mit gemischten Gefühlen. Von nahem erschien ihr der Kasten wie ein aufgerissenes Maul. In der Mitte hatte er Scharniere, von denen aus die obere und untere Klappe schräg nach vorn ragten. Die Öffnung war pechschwarz. Auch als sie ganz dicht herantrat, konnte Mäuse-Mina nicht das Geringste erkennen.
„Scheint leer zu sein”, sagte sie.
Hannes deutete nach oben. „Was sind das für Dinger?”
Aus den Ecken der oberen Klappe hingen spitze, gebogene Zapfen herab, die fahl schimmerten. „Die sehen fast aus wie Zähne. Reißzähne, wie bei einem Wolf oder so.”
Mäuse-Mina schaute nach unten. „Da sind auch welche.” Sie schaute genauer hin. „Und dahinter sind noch mehr. Kleinere. Ich glaube, du hast Recht. Das sind wirklich Zähne.”
Sie versuchten, mehr von dem Gestell zu erkennen, was bei dem Zwielicht nicht einfach war. Wie sie feststellten, waren die Ecken der Öffnung, da wo die großen Zähne herausragten, abgerundet, wodurch das Ganze noch mehr wie ein aufgerissenes Maul wirkte.
Hannes fühlte mit den Händen in den Schatten herum. „Mist, wenn man nur mehr sehen könnte. Ich glaube, hinter der oberen Klappe ist noch was. Am besten schaust du mal nach.” Er machte mit den Händen eine Räuberleiter und sah Mäuse-Mina auffordernd an. Zögerlich stellte sie einen Fuß in seine Hände, drückte sich nach oben und tastete im Dunkeln hinter der Klappe herum.
„Hier ist was Gebogenes”, sagte sie. „Wie ´ne umgedrehte Schüssel. Nee, zwei. Nebeneinander. Und darüber so komische Stacheln. Wie Hörner.” Sie fühlte mit den Händen zwischen den Stacheln. „Lauter kleine Hubbel. Wie bei einer Kröte. Oder einer Schlange.” Sie zog die Hand zurück. Der Gedanke machte ihr Angst. „Lass mich runter!”
Hannes wischte sich gedankenverloren die Hände an der Hose ab. „Kommt mir vor wie diese Figuren, die man auf Karnevalswagen sieht. Weißt schon, Leute oder Tiere aus Pappe, die was Witziges darstellen sollen.”
Mäuse-Mina hatte keine Ahnung, wovon er redete. Sie hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen und witzig fand sie es überhaupt nicht.
Hannes klopfte gegen das Gestell. Es klang dumpf, fast dröhnend.
„Pappe ist das jedenfalls nicht”, sagte er. „Eher Metall. Massiv und schwer, als wär´s zusammengeschweißt worden.” Er versuchte daran zu rütteln, aber nichts bewegte sich. „Wenn es Agaskar gehört, wie hat er das Ding hier raufgebracht? Man braucht bestimmt zehn Leute, um das zu tragen.” Er fühlte wieder mit den Händen in die Öffnung, in die sie aufrecht hätten hineingehen können. „Da ist nichts.” Er trat zurück und runzelte die Stirn. „Ob es wirklich ihm gehört?”
Mäuse-Mina kam ein Gedanke. Sie schob Hannes zur Seite und kniete sich vor das Gestell.
„Was ist?”, fragte er. „Was suchst du?”
„Spuren.“
Sie senkte den Kopf dicht über den Fußboden und fand, wonach sie suchte. Abdrücke von Schuhen im Staub. Es gab mehrere kleine, eindeutig von ihr und Hannes. Aber da waren auch größere. Viel größere. Sie verfolgte sie zur Tür des Abteils und auf den Gang hinaus.
„Jemand muss vor uns da gewesen sein. Ein Erwachsener. Kann nicht lange her sein, sonst hätte der Staub die Spuren wieder aufgefüllt.”
„Agaskar”, sagte Hannes. „Also gehört ihm das Ding tatsächlich. Aber wozu braucht er es?”
„Wozu auch immer”, sagte Mäuse-Mina. „Wenn es seins ist, heißt das, er kann jederzeit hier auftauchen. Wir müssen verschwinden. So schnell wie möglich.” Sie trat zur Dachbodentür und öffnete sie einen Spaltbreit. Im Treppenhaus war kein Geräusch zu hören.
„Los, wir hauen ab”, sagte sie.
Hannes machte ein bedenkliches Gesicht, aber er folgte ihr. Auf Zehenspitzen schlichen sie die Treppe hinab und lugten über das Geländer zum nächsten Absatz hinunter. Die Wohnungstür stand immer noch offen.
„Mist!”, zischte Hannes.
„Er ist nicht zu sehen”, flüsterte Mäuse-Mina. „Wir schleichen vorbei.”
Bemüht, nicht das kleinste Geräusch zu machen, betraten sie die zweite Treppe. Von nun an würde Agaskar sie sofort sehen, wenn er zur Tür kam.
Das graue Licht, das durch ein kleines Fenster im Treppenhaus hereinfiel, warf ihre Schatten auf die Stufen vor ihnen. Blassgraue Schatten, als wären es Gespenster.
„Dachbodengespenster“, dachte Mäuse-Mina.
Sie erreichten die Mitte der Treppe. Kein Laut drang aus der Wohnung. Mäuse-Mina presste die Lippen fest aufeinander. Die Stille hatte etwas Lauerndes. Vielleicht saß Agaskar hinter der Tür und wartete nur auf die günstigste Gelegenheit, sie zu schnappen.
Sie traten eine weitere Stufe hinab. Blieben stehen.
Horchten.
Nichts.
Sie machten sich bereit, die nächste Stufe zu nehmen.
„Was ist eigentlich los?”, fragte Mintz plötzlich. „Wo sind wir?”
Mäuse-Mina und Hannes erstarrten. Das Gepiepse der Mäusin hallte in der Stille deutlich von den Wänden des Treppenhauses wider. Mäuse-Mina steckte eine Hand in ihre Manteltasche und versuchte, Mintz den Mund zuzuhalten. Empörtes Gesumme war zu hören.
Mit angehaltenem Atem starrten sie auf die offene Wohnungstür. Einen Augenblick lang schien es, als würde überhaupt nichts passieren. Sekunden vergingen hoffnungsvoll.
Dann war ein leises Knarren zu hören. Jemand schlich vorsichtig über die alten Holzdielen in der Wohnung.
Ohne ein Wort der Verständigung huschten Hannes und Mäuse-Mina nach oben und flüchteten zurück auf den Speicher. Hinter der Tür blieben sie stehen und lauschten nach unten. Schritte scharrten über den Steinboden des Treppenhauses. Dann wurde das Geräusch lauter. Jemand kam langsam die Treppen herauf.
„Er kommt hoch!”, flüsterte Hannes entsetzt. „Was jetzt?”
Mäuse-Minas Herz klopfte heftig. Angst und die stickige Luft schnürten ihr die Kehle zu. Sie sah sich um. Es gab in den leeren Abteilen keine Möglichkeit sich zu verstecken. Trotzdem lief sie den Gang entlang und zog Hannes mit sich.
„Die Schatten!”, sagte sie. „Wir müssen uns in den Schatten verstecken.”
„Die Gespenster müssen eben zusammenrücken“, dachte sie.
Es war ein klägliches Versteck und würde nur funktionieren, wenn Agaskar lediglich von der Tür aus einen Blick in den Speicher warf. Wenn er genauer nachschaute, musste er sie entdecken.
Hannes deutete auf die Öffnung des seltsamen Gerüstes. „Wenn wir da reingehen, kann er uns nicht sehen.”
Mäuse-Mina hatte das Gefühl, als ob ihr Spinnen die Beine hoch krabbelten. Sie schüttelte sich. Die Öffnung war schwarz, so schwarz wie nichts sein durfte. Schwärzer als die Löcher, die Hannes´ Augen verbargen. Und ihre eigenen. Sie wollte nicht dort hinein. Es war falsch.
„Das Ding gehört ihm. Wenn er reinkommt, wird er bestimmt dort nachschauen.” Sie tastete mit den Händen an der Wand des Gestells entlang. „Vielleicht können wir uns dahinter verstecken.”
Aber es gab kein dahinter. Das merkwürdige Gebilde kam direkt aus der Wand.
Vor der Speichertür waren Schritte zu hören. Es klang verstohlen. Dann verstummte das Geräusch. Die Klinke wurde langsam nach unten gedrückt. Es quietschte leise. Wie eine Maus in Todesangst.
„Er kommt!”, wimmerte Hannes. „Wir haben keine Zeit mehr. Ich geh da jetzt rein.”
Er wartete nicht auf Mäuse-Minas Einwände, sprang in die dunkle Öffnung und verschwand so schlagartig, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Mäuse-Mina hatte Angst. Ob vor oder zurück, alle Wege schienen falsch. Es war ein schreckliches Gefühl. Sie glaubte, sie hörte die unsichtbaren Gespenster höhnisch lachen. Sie kamen von allen Seiten und scheuchten sie auf die Öffnung zu.
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