Mit der Zusage von WT war er zurück nach Klein Schönbeck gefahren, um dem Verhandlungsführer der Landwirte die positive Nachricht zu übermitteln. Erst zu jenem Zeitpunkt erfuhr er von dem Widerstand dieses Holger Geldern, den er bisher bei keinem Treffen wahrgenommen hatte. Und er erkannte die Gefahr, wenn dieser die Öffentlichkeit von der nicht ganz gesetzeskonformen Anpflanzung genetisch veränderter Pflanzen informieren würde.
Sollte das gesamte Projekt bereits vor dem Scheitern stehen, noch ehe es begonnen hatte, das konnte und wollte er nicht zulassen. Zu sehr war seine persönliche Zukunft mit diesem Projekt verknüpft, im Falle eines Scheiterns konnte er sich die Konsequenzen an seinen fünf Fingern ausrechnen. Deshalb hatte er beschlossen, sich selbst um diesen widerspenstigen Landwirt zu kümmern, ihm sogar ein höheres Angebot als den anderen zu unterbreiten, sofern es nur diesen Weg geben sollte.
Außerdem sollten die Landwirte der Genossenschaft diesen Holger Geldern stärker einbinden, ihn ab sofort zu allen Treffen einladen. Damit so hoffte er, würde ihn die Gemeinschaft nach und nach weichklopfen, ihn von der lukrativen Vereinbarung überzeugen.
Dem Besucher in der Vorstandsetage der Terraplan sah man an, dass er die letzten achtundvierzig Stunden wenig geschlafen hatte. Während er im Wartebereich der obersten Etage des Verwaltungsgebäudes wartete, blickte er aus dem Fenster direkt auf die Wasserfläche des Bonadieshafens. Es ärgerte ihn, dass er, obwohl zu der vereinbarten Zeit eingetroffen, wieder einmal mit dem Wartespiel konfrontiert wurde. Damit sollte ihm schon zum Beginn des Gesprächs aufgezeigt werden, wie unwichtig er war, was für ein kleines Rädchen er in dem großen Getriebe der Terraplan darstellte.
Bereits in der Nacht hatte er seine Kontaktperson angerufen, um diese von dem Mord an diesem Holger Geldern zu informieren. Die Behebung des einen Problems hatte allerdings ein anderes Problem aufgeworfen, da die Tötung dieses Geldern so dilettantisch erfolgt war, dass eine Korrektur nicht möglich wurde.
Niemand hätte jetzt noch den Leichnam so drapieren können, dass man auf einen Unfall hätte schließen können, da die Verletzungen die zum Tod geführt hatten, zu eindeutig waren. Er hatte den Mord zwar nicht gesehen, da er zu spät zum Tatort gekommen war, um noch eingreifen zu können, allerdings glaubte er, einen der Täter im Dämmerlicht der Nacht erkannt zu haben.
›Sprechen Sie nicht weiter, kommen Sie sofort nach Mannheim, wir müssen unbedingt beraten, wie wir weiter vorgehen. Vor allen Dingen reden Sie mit keinem Menschen darüber, haben Sie mich verstanden‹, der drängende Tonfall ließ die Wichtigkeit erahnen, mit der der Angerufene auf sein Schweigen hinwies.
›Verstanden, ich werde sofort losfahren, ich bin jetzt sowieso nicht in der Lage zu schlafen, vielleicht muss ich zwischendurch eine Pause einlegen, bis Mittag müsste ich allerdings bei Ihnen in Mannheim eintreffen‹.
Dieses Telefonat war es, das dazu geführt hatte, dass er jetzt in Mannheim in der Zentrale seines Auftraggebers saß. Vor sich seine Kontaktperson, der ihn bewogen hatte, die siebenhundert Kilometer mit nur einer Kaffeepause hinter sich zu bringen.
Da er fast zwei Stunden vor dem vereinbarten Termin in Mannheim eingetroffen war, entschloss er sich, vorher ein Café zu suchen, um zu frühstücken. Noch wichtiger, er musste nochmals in Ruhe darüber nachzudenken, was er preisgeben wollte. In unmittelbarer Nähe zum Friedrichsplatz fand er ein Café, bei dem noch Tische auf dem Vorplatz frei waren, hier konnte er bestimmt beides ohne Störung durch direkte Nachbarn hinter sich bringen.
Im Übrigen wollte er die Wärme der Sonne genießen, da jetzt bereits, mit dem Ausklang des Sommers, nicht mehr so viele Sonnentage vor ihm lagen. Gedankenverloren betrachtete er den alten Wasserturm, sah über der Spitze das langsame Dahinziehen der Kumuluswolken. Sollten diese Wolken, die Zeichen für das schöne Wetter waren, ein Omen für den bevorstehenden Besuch sein, als eine dunkelhaarige Frau vor seinem Antlitz erschien.
›Was kann ich für Sie tun‹, obwohl ihr Dialekt sehr ausgeprägt war, lächelte sie ihn trotzdem professionell an. Sie wartete geduldig auf seine Bestellung, ehe sie zum nächsten Tisch ging, der gerade von einem jüngeren Paar besetzt wurde.
War es unbedingt erforderlich, bereits jetzt den vermeintlichen Täter bekannt zu geben, oder sollte er den Namen dieser Person vorerst für sich behalten. Vielleicht benötigte er zu einem späteren Zeitpunkt einen Trumpf, den er ausspielen konnte, sollte er durch eine Unachtsamkeit in Bedrängnis geraten. Vielleicht war es besser abzuwarten, dann zu reagieren, wie es die Situation erforderte, möglicherweise musste er die Entscheidung fällen, die Person bereits heute bekannt zu geben.
Eigentlich war dieses primitive Bespitzeln unter seiner Würde, wenn man seinen beruflichen Hintergrund berücksichtigte. Er hatte in der ehemaligen DDR-Karriere gemacht, hatte bereits den Rang als Oberst in der HA II des MfS bekleidet, als diese durch die Wende jäh unterbrochen wurde. Sein Aufgabengebiet bis zur Wendezeit war die Spionageabwehr. Die Aufdeckung und Abwehr geheimdienstlicher Angriffe gegen die DDR sowie die Aufklärung von Organisationen, die im Operationsgebiet gegen die DDR arbeiteten, so die offizielle Beschreibung.
An jenem neunten November, als Schabowski mit der Verkündung der Reisefreiheit die DDR faktisch auflöste, befand er sich in der Normannenstraße in einer Sitzung, als das Chaos ausbrach. Alle hatten wie betäubt da gesessen, waren unfähig zu verstehen, wie sie derart verraten werden konnten. Erst war es nur ein Gerücht, dann bestätigte sich dieses Gerücht als Befehl, die unverzügliche Beseitigung alle belastenden Unterlagen.
Bei seinen späteren Bewerbungen wurde ihm immer seine Akte vorgehalten, wurde ihm die Tätigkeit vorgeworfen, die in jedem anderen Staat als Teil der Sicherung ausgeübt wird, die Spionageabwehr. Als er die Sinnlosigkeit erkannte, seine bisher ausgeübte Tätigkeit in den Prozess der Wende einzubringen, beschloss er, einen anderen Weg einzuschlagen. Dieser Entschluss führte auch dazu, dass er vorübergehend Tätigkeiten ausübte, die weder seiner Ausbildung noch seinem Intellekt entsprachen.
Nach einer Vielzahl von Tätigkeiten, auf die er nicht besonders stolz war, wenn er darauf angesprochen wurde, landete er in der Sicherheitsabteilung der Terraplan. Hier hatte man seinen Aufgabenbereich nie genau definiert, er wurde als Angestellter für besondere Aufgaben geführt, der ausschließlich dem Vorstand unterstand. Nur diesem hatte er mündlich das Ergebnis seiner Tätigkeit mitzuteilen. Schriftliche Meldungen waren strikt untersagt, Notizen mussten im Beisein eines Zeugen vernichtet werden. Dieses paranoide Verhalten kannte er zwar aus seiner früheren Tätigkeit, hier hatte er nicht selten das Gefühl, dass der Verfolgungswahn bereits Züge paranoider Schizophrenie angenommen hatte.
Seit etwas mehr als drei Monaten war er in der „Sondermission Klein Schönbeck“ in der Umgebung tätig, wobei seine Hauptaufgabe darin bestand diesem Dr. Schneider auf die Finger zu sehen. Darüber hinaus sollte er die Stimmung in dem Ort erfassen, feststellen, wie es in der Bevölkerung aufgenommen wurde, wenn die Landwirte nicht genehmigtes Saatgut verwendeten. Wurde dies in der Bevölkerung überhaupt wahrgenommen oder war es den meisten Bewohnern gleichgültig, gab es Widerstand, oder drohte gar noch mehr.
Seine Berichte hatte er jeweils am Sonntag telefonisch an seine Kontaktperson gemeldet, der entweder mit dem Ergebnis zufrieden war oder neue Anweisungen erteilte, um das Klima in seinem Sinne zu verändern. Das ging so weit, dass er Gemeindefeste finanzierte, die offiziell von der landwirtschaftlichen Gemeinschaft ausgerichtet wurden, um das gute Klima aufrechtzuerhalten.
Читать дальше