Kein Wässerchenschien die Schönheit des heutigen Tages zunächst zu trüben, als Marian mit seiner Familie auf der mit Rhododendren überwucherten Terrasse seiner Nobelvilla in Belgravia ausgiebig brunchte. Ausgelassen ging er später mit Frau und Töchterlein im Hydepark spazieren, in dem sich schon viele Menschen tummelten: picknickende Familien, Jogger und innig liebende Paare. Gedanken an Diwata durfte solche Augenblicke des Glücks nicht mehr stören. Diese Vereinbarung hatte er mit seinem Gewissen getroffen.
Dumm war nur, dass sich sein Gewissen nicht immer an jene Vereinbarung hielt. Bereits in Chinatowns Restaurant Golden Dragon hatte sich das Familienglück verflüchtigt. Allzu sehr weckte das köstliche Menü Erinnerungen an jenes vorzügliche Mahl, das er vor über einem Jahr in Binondo mit Diwata genossen hatte. Marian wollte sich nichts anmerken lassen und kompensierte den Frust der noch nicht verarbeiteten Trennung mit Jiaozi, Frühlingsrollen, gebratener Ente, allerlei Fischgerichten, süßsaurem Schweinefleisch, japanischer Misosuppe, einer großen Menge an Sushi in allen Varianten, chinesischem Tee und Pflaumenwein. Da er wie ein Leistungssportler unzählige Male zwischen Buffet und seinem Platz hin und herpendelte und sich den Teller füllte, fiel zunächst auch nicht auf, dass er ziemlich wortkarg war. Schließlich war der Arme ja völlig außer Atem. Schweißperlen auf der Stirn waren ein weiterer Beweis für die große Anstrengung zwischen Buffet und Tisch. Nachdem er beim Dessert zwar zur Ruhe gekommen war, aber immer noch kaum ein Wort sprach, wunderte sich Lesley: „Sehr gesprächig bist du heute ja nicht gerade. Was ist denn los mit dir? Woran oder an wen denkst du? Doch etwa nicht an diese....“
„Nein, nein. Natürlich nicht“, versuchte er seine Frau zu beruhigen. „Über die bin ich längst hinweg“, log er weiter.
Am Abend des schönen Maitages hatten Lesley und Marian endlich einmal Zeit für sich selbst, während ihr Babysitter sich um die kleine Eliza kümmerte. In der Woche passte gewöhnlich eine Tagesmutter auf die Kleine auf. Lesley, die eine Stelle als Buchhalterin im Belgravia College gefunden hatte, kam wie Marian oft erst am späten Nachmittag nach Hause, manchmal sogar erst abends. Jetzt genoss das gestresste Paar das bunte Treiben umso mehr. Arm in Arm schlenderte es durch Soho, durch dessen Straßen Künstler, Geschäftsleute, Liebespaare und Huren flanierten. Marian und Lesley lauschten den Straßenmusikern. Eine Jazzband spielte beschwingt Ragtime, Dixie, Bebop und Latin Jazz. Einige Meter weiterertönten Gesang und Gitarrenriffs eines virtuosen Rockgitarristen. Nicht weit davon entfernt sang eine sehr talentierte schwarze Soulsängerin eigene Songs, begleitet von Gitarristen, Keyboardern, Schlagzeugern und dem stimmgewaltigen Chor dreier Sängerinnen. Die ganze Welt schien hier in Soho an jenem Abend vereint zu seines war ein Bild der Extreme: Lasziv und modisch gekleidete Ostasiatinnen, Pakistani und Inderinnen stolzierten auf Stöckelschuhen neben Frauen in Kopftüchern und Burkas. Konservative Banker in Schlips und Kragen schien die Anwesenheit von Touristen in ausgewaschenen Jeans und T-Shirts nicht zu stören, obwohl etliche schon deutlich über ihren Durst getrunken hatten und grölend von Pub zu Pub torkelten. In diesem kosmopolitischen Menschengewühl fielen die Händchen haltenden schwulen und lesbischen Paare aus der Gay Community Londons nicht weiter auf. Lesley und Marian setzten sich in ein Straßenrestaurant und sahen, Cocktail schlürfend, der fröhlichen Menschenmenge zu.
Gerne wäre das Paarnoch durch die nächtlichen Straßen Sohos geschlendert, doch um zehn Uhr abends begann schon die Spätvorstellung des Musicals Miss Saigon im Royal Drury Lane Theatre. Marian war der Inhalt des Musicals bestens bekannt, zumal er das Stück schon zweimal gesehen hatte und sich noch gut an die beeindruckende Uraufführung am zwanzigsten September 1989 erinnerte. Doch heute sah er Miss Saigon mit anderen Augen. Die Vergangenheit holte ihn wieder ein, sein schlechtes Gewissen verfolgte ihn abermals. Zunächst hatte das Musical nichts mit seinem Leben zu tun. Schließlich verkörperte er nicht den US-Soldat Chris, der sich am Ende des Vietnamkrieges in das siebzehnjährige Barmädchen Kim verliebt hatte. Marian hatte jedoch auch seine Geliebte verlassen und führte weit entfernt von deren Heimat ein bürgerliches Eheleben. Was wäre, wenn Diwata ebenso wie Kim ein uneheliches Kind zur Welt bringen würde, das er mit seinem Samen am Geheimen Strand gezeugt hatte? Wäre sein Gelübde dann ein Fluch?
Fiktion und Wirklichkeit verwirrten ihn. Im Laufe des Musicals wurde ihm schwarz vor den Augen. Er zitterte und stand, in kaltem Schweiß gebadet, mehrmals auf, um nach Luft zu schnappen. „Was ist los mit dir?“, flüsterte Lesley besorgt, „ist dir schlecht? Sollen wir gehen?“ Doch Marian winkte ab. Er hielt die gesamte Aufführung durch, bis sich Kim, die Miss Saigon, am Schluss des Musicals das Leben nahm und in Chris' Armen starb. Das konnte Marian nicht mehr ertragen, vorausahnend, dass Diwata als verzweifelte alleinerziehende Mutter vielleicht ebenfalls Selbstmord begehen könnte. Am Ende der Aufführung von Miss Saigon brach er bewusstlos zusammen. Sanitäter trugen ihn aus dem Theater, während das Publikum stürmisch applaudierte, begeistert mit den Füßen trampelte und keinerlei Notiz von ihm nahm.
Marianerwachte im Belgravia District Nurses Hospital aus seiner Ohnmacht. In der Sterilität seines Einzelzimmers wunderte er sich, wo er war. Als ihm Lesley erzählte, dass er unmittelbar nach dem Selbstmord von Miss Saigon in Ohnmacht gefallen war, konnte er es kaum glauben. Er brach in ein schallendes Gelächter aus, doch seine Frau fand die ganze Situation überhaupt nicht komisch.
„Das ist nicht lustig“, sagte sie streng. „Ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit.“
„Ach, ich habe gar nichts“, entgegnete Marian, der wie immer den Ernst der Lage nicht wahrhaben wollte. „Ich habe einfach zu viel gearbeitet und zu wenig getrunken. Wahrscheinlich bin ich ausgetrocknet.“
Marian musste eine Woche im Krankenhaus bleiben. Alle nur erdenklichen Organe wurden untersucht, darunter auch sein Herz. Keine einzige Untersuchung zeigte auch nur die geringste Auffälligkeit. Er war bei bester Gesundheit. Auch Blutwerte und Blutdruck waren hervorragend. „Wir sehen uns an Ihrem tausendsten Geburtstag wieder“, scherzte der Chefarzt am Tag seiner Entlassung. Marian war jedoch überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Was nützte ihm seine körperliche Kraft, wo dunkle Schatten auf seiner Seele lagen? Könnte es sein, dass ihn Diwatas Geist verfolgte? Lastete tatsächlich ein Fluch auf ihm? Ich bin bei dir, und seist du noch so fern: Du bist mir nah! Bedeutete dieses Bekenntnis, dass er nicht eine Sekunde mehr von Diwata loskommen würde? Marian spürte ein unbändiges Verlangen, Diwata wiederzusehen. Zugleich konnte er auf keinen Fall seine Londoner Familie im Stich lassen. Im Spannungsfeld zweier Frauen, denen er gedankenlos seine ewige Treue geschworen hatte, fühlte er sich, als wäre er zwei Magneten ausgeliefert. Ihre ungeheure Anziehungskraft schien ihn zu zerreißen.
Es war nicht verwunderlich, dass ihn Lesley unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Londoner Wohnung zur Rede stellte. „Es ist schon merkwürdig, dass du als kerngesunder Mann am Ende des Musicals Miss Saigon zusammengebrochen bist. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. Es war bleich wie der Tod. Könnte es sein, dass du die Handlung des Musicals nicht verkraftet hast, weil sie deinem eigenen Leben ähnelt? Doch sag mir“, sprach sie mit bohrendem Blick, „ist es etwa möglich, dass ihr beide ein......“
„Nein, nein“, versuchte Marian seine Frau zu beruhigen, obwohl er innerlich vor Angst zitterte, „da musst du dir keine Sorgen machen. Wir haben uns immer geschützt.“
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