An einem Sonntagvormittag Anfang Februar saß Diwata mit zitternden Händen am Telefon und wählte Imeldas Nummer. Mit leiser und trockener Stimme sagte sie: „Hallo, hier ist Diwata. Ich wollte mich bei dir.....“ Imelda knallte den Hörer auf. Weshalb gab sie ihr nicht einmal die Gelegenheit, sich zu entschuldigen? Sehr deprimiert schlich Diwata zu ihrem Bett, in dem sie den Rest des Tages teils schlafend, teils grübelnd verbrachte. Manchmal starrte sie nur ihre schwarze Wand an. Litt sie vielleicht schon seit Tagen an Depressionen? Nein, davon konnte keine Rede sein. In den letzten Wochen war einfach zu viel Schlimmes passiert. Das musste sie erst einmal verarbeiten. Wenigstens gab es einen Hoffnungsschimmer: Ihre Familie hielt zu ihr.
Noch durfte sie nicht aufgeben. Sie musste immer wieder versuchen, Imelda zu erreichen, um sich mit ihr zu versöhnen. Am darauffolgenden Tag versuchte sie es noch einmal. Diesmal hatte sie Erfolg. Die Busenfreundin war bereit, mit Diwata zu sprechen, allerdings nur kurz und mit kalter, distanzierter Stimme. Sie einigten sich auf ein Treffen am darauffolgenden Samstag.
Imelda hatte Diwata nur selten besucht. Ihr prunkvolles, großes Haus hatte sie aber in guter Erinnerung. Deshalb war sie bestürzt über einige verwahrloste Zimmer der Villa. Ganz besonders fiel ihr jedoch das ungepflegte Aussehen der Freundin auf. Es war offensichtlich: Diwata war überhaupt nicht gut beieinander, möglicherweise sogar psychisch krank. Sie zählte zu jenen Leuten, die über eine Trennung nur schwer hinwegkommen und sich in ihren Schmerz so hineinsteigern, dass ihr Zustand als pathologisch bezeichnet werden muss. Imelda nahm wirklich Anteil, ihr Mitleid wirkte nicht verletzend und herablassend. Im Gegensatz zu ihrem Treffen im Café Akiba versuchte Imelda diesmal, ihre Freundin zu verstehen. Es war jedoch schwer, Diwata zu folgen, weil sie ihre wirren Worte immer wieder durch heftiges Schluchzen unterbrach.
Diwatas vermutliche Gravidität verwunderte Imelda nicht. Ihre Freundin würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Mutter werden, es sei denn, sie triebe ab. Als Katholikin würde sie aber alles tun, Diwata solch ein Vorhaben auszureden. Vieles konnte sie tolerieren, aber keine Abtreibung, aus welchem Grund auch immer. Außerdem war ein Schwangerschaftsabbruch auf den Philippinen illegal und deshalb mit großen Risiken verbunden. Kein seriöser Arzt wollte sich der gesetzeswidrigen Tötung eines ungeborenen Kindes schuldig machen. Nur Scharlatane taten dies zu Wucherpreisen. Mit klopfendem Herzen starrten beide Frauen auf den Schwangerschaftstest. Die zwei Minuten bis zum Klarheit schaffenden Wort schienen unendlich zu sein. Als sie endlich das Wort „schwanger“ lasen, reagierten beide mit einem Aufschrei. Diwatas Gemüt schwankte zwischen Freude und Verzweiflung. Sie hatte sich so sehnlich ein Kind gewünscht, jedoch in ihrer naiven Loyalität zu Marian niemals für möglich gehalten, dass sie einmal als alleinerziehende Mutter ihr Kind erziehen würde, noch dazu in einem Land, in dem die Religion eine solch große Rolle spielte. Wieder einmal konnte sie ihre Gefühle nicht beherrschen und weinte hemmungslos und heftig. Warum weinte sie? Aus Freude über das Kind, Verzweiflung über die zu befürchtende Diskriminierung ihrer Gesellschaft, Hoffnung, Schuldgefühlen gegenüber ihren Eltern und Verwandten, Angst vor der Verantwortung? Sie wusste es selbst nicht. Imelda hingegen fasste sich schnell wieder und tat das einzige, was eine gute Freundin in dieser Situation tun muss. Sie umarmte Diwata und sprach ihr Mut zu: „Diwata, wir haben uns beide sehr dumm benommen, aber wir gehören zusammen. Die Umstände deiner Schwangerschaft sind zweifelsohne schwierig, aber vergiss nie, dass ein Kind ein Segen ist. Wisse: Ich werde dir immer beistehen, egal, wie es dir geht, was du tust und wo du bist. Sei dir dessen gewiss.“
Imeldasermunternde, tröstende Worte hatten Diwata gut getan, doch sie konnten nichts daran ändern, dass sie sich fühlte, als ob jemand mit einer Bratpfanne auf ihren Kopf geschlagen hätte. Wie froh wäre sie jetzt, wenn Marian noch bei ihr wohnte, denn schließlich hatte sie sich ja insgeheim ihre Schwangerschaft gewünscht. Zumindest war sie ohne Wissen ihres Geliebten das Risiko eingegangen, Mutter zu werden. Als unverheiratete, junge Frau ein Kind ohne Partner großzuziehen, war jedoch in ihrer engstirnigen und bigotten Gesellschaft ein Frevel. Warum wollten so viele nicht einsehen, dass auch in katholischen Ländern Kinder ohne Vater aufwachsen? Weshalb verschlossen sie ihre Augen vor neuen Lebensformen jenseits der traditionellen Familie? Jetzt war auch sie eine jener Frauen, die von Liebhabern geschwängert und dann verlassen worden waren. Diwata kochte innerlich vor Wut. Was sollte sie nur ihrer Familie sagen? Würde sie jetzt wirklich ihr Gesicht verlieren? Auch bittere Tränen der Verzweiflung verschafften keine Erleichterung: Sie musste es sagen. Sie konnte nicht jene Wahrheit verheimlichen, die bald alle mit eigenen Augen sehen würden.
An diesem schönen Februarmorgenim Jahre 1992 wollte sie jedoch alles kurzfristig vergessen. Sie musste unbedingt einen Stadtbummel machen. Sie war froh, der dunklen Enge ihrer Wohnung zu entkommen.
Es war am frühen Vormittag. Sie saß zusammen mit vielen anderen Fahrgästen im Regionalzug Richtung Quezon City. Die feuchtheiße Regenzeit ließ noch lange auf sich warten. Noch war es mäßig warm und trocken, aber im Zug war die Luft so schwül und stickig, dass den meisten Passagieren der Schweiß aus den Poren lief. Sie hatte es vermieden, während der frühen Morgenstunden dieses öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wenn Tausende von Pendlern gewöhnlich die Bahnsteige überschwemmen und sich in die Züge quetschen. Doch es war immer noch voll. Ihr gegenüber saß ein etwas älterer, dickbäuchiger Mann mit feistem Gesicht, der sie wenig dezent anstarrte. Schließlich fiel sie mit ihren kurzen Haaren auf. Das lange schwarze Kleid erregte die Aufmerksamkeit des Mannes nicht minder. Weder ihre Figur noch die sinnlichen Lippen und dunklen, verführerischen Augen hatten ihre ursprüngliche Schönheit verloren. Wahrscheinlich war es diese Widersprüchlichkeit, die den Mann in seinen Bann zog. Ansonsten nahm niemand Notiz von ihr, weder die kichernden Jugendlichen auf den anderen Sitzen noch der neben ihr sitzende Banker im Designeranzug, der sein Gesicht unter seine Zeitung vergrub. Was sollte sie heute machen?
Ziellos pendelte sie zwischen Makati und Quezon. Irgendwann stieg sie an der nicht weit von ihrer Wohnung entfernt liegenden Ayala Station aus. Nun war sie Teil einer Menschenmasse, wie Lemminge in eine Richtung drängend. Bis vor kurzem hatten ihre Anmut, Schönheit und Klugheit viele Menschen magnetisch angezogen, aber jetzt genoss sie es, von niemandem beachtet zu werden. Wie unzählige andere Fahrgäste ging sie durch den Ausgang und redete sich ein: Ich bin frei. War sie das aber tatsächlich? Marian hatte ihr eine Freiheit zurückgegeben, die sie nicht mehr wollte. Sie fühlte sich nichtig und hilflos, gleich einer Feder im Wind, die orientierungslos dorthin weht, wohin der Lufthauch sie tragen wollte. Sie hatte kein Ziel, aber wenigstens im Kreise von Freunden und Verwandten fand sie Halt. Und sie war nicht mehr allein. In ihrem Unterleib war ein kleines, winziges Wesen, noch nicht als Mensch erkennbar, doch es würde heranwachsen und von Monat zu Monat immer deutlicher die Form eines Winzlings annehmen.
Während ihres Bummels auf einer von Manilas beliebtesten Einkaufsstraßen, der Ayala Avenue, setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete die an ihr vorbeilaufenden Leute. Sie sah Geschäftsmänner, Paare und Familien mit Kindern. Alle schienen ein Ziel zu haben, dem sie hinterher hetzten. Und sie? Plötzlich war ihr klar: Nur langsam würde sie über ihre Trennung hinwegkommen, aber das winzige Menschlein in ihr würde ihr helfen, im Leben zu zielen. Es würde sie zwingen, neue Hoffnung zu schöpfen. War sie nicht jung genug für einen Neuanfang? Ihr war bewusst, dass sie nur im Schneckentempo vorankommen würde. Mit Rückschlägen und Kehrtwendungen ins Reich der Lethargie musste sie rechnen. War es dennoch nicht besser, sich nur sehr langsam vorwärts zu bewegen als dauerhaft in Trauer und Depressionen zu erstarren? Sie nahm sich vor, Eltern, Verwandten und Freunden die Wahrheit zu sagen, koste es, was es wolle. Außerdem konnte sie nicht für immer wie eine schwarzgekleidete Nonne durchs Leben gehen. Also kaufte sie Markenkleider von Louis Vuittons und Donna Karan.
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