Nach ihrem Bummel im Einkaufszentrum La Glorietta führte sie der Weg zum thailändischen Restaurant Oody‘s, wo sie einen leckeren großen Salat mit Garnelen, Sojasprossen, Erdnüssen und süßsaurer Chilisoße bestellte. Zum ersten Mal seit Wochen schmeckte ihr das Essen wieder gut. Sie genoss jeden Biss in vollen Zügen und ließ den Mangosaft auf der Zunge zergehen.
Am Nachmittag verspürte sie das große Verlangen, ihr Lieblingscafé Akiba zu besuchen. Das war ein Wagnis, denn sie hatte immer noch Hausverbot. Durch den kurzen Haarschnitt und das lange schwarze Kleid wurde sie aber nicht erkannt. Schnell verfolgten sie die Schatten der Vergangenheit. Während sie ohne Appetit in ihrem grünen Teekuchen herumstocherte, hatte sie plötzlich wieder ihre Schlägerei mit Imelda vor Augen. Es folgten weitere schreckliche Erinnerungen an Flüche und Verleumdungen, Jähzorn und Alkoholexzesse. Nackte Panik bemächtigte sich ihrer, als sie plötzlich daran dachte, dass schon geringe Mengen an Alkohol dem Kind im Mutterleib dauerhaften Schaden zufügen können. Eine Fehlgeburt war keineswegs ausgeschlossen. Und was wäre, wenn sie ein behindertes Kind zur Welt brächte? Alles, was sie fühlte, war Bitterkeit und Wut über sich selbst. Sie stand auf und zahlte, obwohl sie weder ihren Mokka ausgetrunken noch ihren Teekuchen aufgegessen hatte. Zum ersten Mal empfand sie ihr geliebtes japanisches Café als Ort oberflächlicher Zerstreuung, den sie in ihrem Gemütszustand keine Sekunde länger ertragen konnte.
Ihr Weg führte unmittelbar zur Kathedrale von Manila. Im Lichte der barocken Kirchenfenster kniete sie nieder und versank in ein inbrünstiges Gebet. Niemals zuvor hatte sie solch eine Verzweiflung empfunden. Sie war noch schlimmer als Trennungsschmerz und Wut auf Marian, denn an ihrem unverantwortlichen Verhalten hatte sie allein die Schuld. Jetzt stand es im Ermessen Gottes, ob sie ihr Kind zur Welt bringen würde. ER allein würde auch über Gesundheit oder Krankheit des Kindes entscheiden. Sie hoffte, dass der Heilige Vater kein zürnender Gott wäre, sondern auch Sünder lieben würde. So bat sie um Vergebung für alle ihre Sünden. Während sie ihr mit Tränen überflutetes Gesicht unter ihren Armen verbarg, schrien ihre Gedanken zu Gott: „Geliebter Vater: Wisse, dass ich mir meiner großen Schuld bewusst bin, doch ich flehe dich an: Verschone mein Kind. Es ist alles, was ich habe. Und es ist unschuldig.“
Offensichtlichhatte sie bei Gott mit ihrem verzweifelten Gebet Gehör gefunden. Der Ultraschall offenbarte deutlich die winzige Gestalt eines Mädchens. Der Embryo zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Sie würde eine kerngesunde Tochter zur Welt bringen. Mit unbeschreiblicher Erleichterung und Freude nahm sie diese gute Nachricht auf. Mittlerweile war Diwata im fünften Monat schwanger, was nicht mehr zu übersehen war. Sie hatte es einfach nicht fertig gebracht, anderen von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, abgesehen von Imelda. Stattdessen hatte sie ihre Mitmenschen immer erfolgreich davon überzeugt, dass ihr deutlich sichtbarer Bauch eine Folge von übermäßigem Genuss von Kuchen und Schokolade sei. Wer spürt nicht das Verlangen, in einer großen Krise sein Leben zu versüßen? Jetzt gab es jedoch keinen Grund mehr, irgendjemandem ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Was auch immer geschehen war: Sie würde ein gesundes Kind gebären, denn eine Fehlgeburt war bei gesunder Lebensführung so gut wie ausgeschlossen. Und sie lebte gesund. Obst und Gemüse aß sie jeden Tag, schlief gut und trank keinen Tropfen Alkohol.
Als sie an jenem heißen Abend im Mai 1992 ihren Eltern gestand, dass sie schwanger war, saßen diese wie versteinert auf der Terrasse. Nach unendlich scheinenden Minuten des Schweigens sagte schließlich ihr Vater mit besorgter Miene: „Komm, lass uns reingehen. Die Nachbarn müssen nicht unbedingt hören, was wir hier besprechen.“ Als sie am Glastisch saßen, sagte ihr Vater:
„Da hast du dir selbst und uns etwas eingebrockt.“ Diwata wusste sofort, dass er meinte: „Jetzt haben wir unser Gesicht verloren.“ Die Moralpredigt ihrer Mutter ließ nicht lange auf sich warten.
„Diwata, ich habe immer gewusst, wie wild ihr es getrieben habt. Klar war mir auch, dass ihr nicht damit warten konntet, bis ihr verheiratet wart, wie es sich geziemt. Ich hatte aber zumindest erwartet, dass ihr als verantwortungsvolle Erwachsene eine Schwangerschaft mit allen legalen Verhütungsmitteln verhindern würdet. Ihr hingegen wart naiver und dümmer als Teenager. Oder wolltest du etwa schwanger werden?“
Diwata lief ein Schauder den Rücken herunter. Sie brachte es nicht fertig, zu gestehen, dass sie die volle Verantwortung für ihre Schwangerschaft trug. Während sie überlegte, was sie auf die intime Frage ihrer Mutter antworten sollte, kamen die erlösenden Worte ihres Vaters: „Nun denn, wir können das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Blicken wir stattdessen in die Zukunft. Ist ein Kind kein Geschenk des Himmels? Was auch immer geschehen wird: Wir werden bei dir sein und dir helfen.“ Ihre Mutter nickte zustimmend. Sie fiel ihrem Vater weinend in die Arme. Sie hatte das Schlimmste befürchtet, niemals hingegen mit so viel Verständnis gerechnet. In diesem Augenblick glaubte sie, die besten Eltern der Welt zu haben.
Je rundlicher Diwatas Bauch wurde, desto mehr verbesserte sich ihr Gemüt. Sie sah wieder eine Zukunft. In ihr wohnte eine kleine Erdbewohnerin, die im Laufe ihres Wachstums immer stärker durch Tritte auf sich aufmerksam machte. Diwata sprach mit ihr und sang Wiegenlieder. Häufig hörte sie klassische Musik. Mozarts Klaviersonaten prägten den Alltag.
Schon jetzt wusste Diwata, dass sie ihre Tochter Dalisay Salvadora nennen würde. Salvadora, die Retterin. Hatte ihre Tochter sie nicht von der Verzweiflung befreit und aus der Antriebslosigkeit gerissen? Natürlich dachte Diwata auch noch oft an Marian. Sie wurde immer wieder melancholisch, wenn sie sich vorstellte, wie schön ihre Schwangerschaft jetzt wäre, wenn ihr zum zukünftigen Ehemann auserkorener Ex-Freund sie begleiten und unterstützen könnte. Wie sehr brauchte sie gerade jetzt seinen Halt. Doch sie freute sich auch über den seelischen Beistand und die Hilfe ihrer Eltern, Verwandten und Freunde. Wider Erwarten wurde sie nicht getadelt und erst recht nicht verstoßen. Dadurch gewann sie ihr Selbstbewusstsein zurück und fasste neuen Mut.
Wenn sie keine Klausuren schrieb, stürzte sie sich auf das Schreiben. Sofern es ihre gesundheitliche Verfassung zuließ, schrieb sie bis zu acht Stunden am Tag. Ihre Hände tanzten dann regelrecht über die Tastatur ihres Laptops. Sie identifizierte sich mit der Heldin Rosario . Hatte sie nicht mit ihrer Protagonistin viel gemein? Andererseits konnte sie sich von Traditionen nicht lösen. Rosario wäre es nie in den Sinn gekommen, zu heiraten. Je mehr sie schrieb, desto mehr zweifelte sie an sich selbst. Hatte sie wirklich heiraten wollen oder nur ihren Eltern zuliebe? Hatte sie wirklich ausschließlich den Traum anderer erfüllen wollen? War ihre Romanheldin so, wie sie sich nicht zu sein traute? Musste sie über 300 Seiten schreiben, weil sie in zwei einfachen Sätzen nicht ausdrücken konnte, was sie wünschte, wollte und fühlte? Hatte sie beim Liebesakt am Geheimen Strandüberhaupt an ein Kind gedacht?
Diwatas Grübelei war müßig. Ihr Entschluss, nicht mehr die Pille zu nehmen, mag unverantwortlich gewesen sein. Jetzt war ihr das aber alles völlig gleichgültig. Sie wollte das Kind, auch wenn die Geburt nicht den Moralvorstellungen ihrer Umgebung entsprach. Sie wollte es um jeden Preis.
Obwohl die Morgensonneschon das Schlafzimmer durchflutete und die Vögel zwitscherten, lagen Marian mit Frau und Tochter noch im Bett. Ein verfrühter trockener Sommertag hatte begonnen, selten in dieser Stadt mit ihrem gemäßigten und feuchten Klima. Und das Ende Mai! Marian nahm seine Tochter liebevoll in den Arm. „Ich liebe dich, Papa“, sagte sie. Marian und Lesley sahen sich an und lächelten. Beide wurden Teil eines der Momente jenes vollkommenen Glücks, das nur von kurzer Dauer ist. Diese Augenblicke sind es, derentwegen es sich lohnt zu leben, so beschwerlich und steinig auch der für uns bestimmte Weg sein mag. Endlich schien er das Familienglück wiedergefunden zu haben, während seine Vergangenheit über 11.000 Kilometer lange Schatten nach Manila warf. Marian hingegen versuchte, die Gedanken an die verstoßene Geliebte zu verdrängen, was ihm von Tag zu Tag besser gelang. Genauso erfolgreich hatte er seine nun neben ihm liegende und innig liebkosende Ehefrau verdrängt, als er vollkommen unter Diwatas Bann gestanden hatte.
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