Diskothek des Eden-Clubs: Zur ohrenbetäubenden Techno-Musik bewegte sich eine zügellose Menschenmenge. Manche tanzten wie in Trance, andere mit zuckenden Bewegungen. Höchstwahrscheinlich hatten viele schon mehrere Ecstasytabletten geschluckt. Hübsche junge Männer balzten mit attraktiven, halbnackten Mädchen. Eine derbe und laszive Körperlichkeit beherrschte diese Welt aus Lärm und Schweiß. Hier war fast alles erlaubt, sogar in der Hauptstadt eines weitgehend katholischen Landes. Der Eden-Club schien ein Ort zu sein, an dem eine streng und konservativ erzogene Jugend die Möglichkeit hatte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen: ein Eldorado der Sinnlichkeit. Marian und Diwata tanzten auch ohne Wirkung irgendeiner Droge so, als hätten sie es auf der Tanzfläche miteinander treiben wollen. Noch wilder und anstößiger tanzte Imelda mit Virgilio. Bald blieben die Tänzer und Tänzerinnen in ihrer unmittelbaren Umgebung stehen, klatschten und grölten, als ob sie Popstars bewundert hätten.
Auf dem Weg zur Toilette sah Marian, wie sich blutjunge Paare in dunklen Ecken der Gänge hemmungslos küssten und berührten. In einer Stadt, in der öffentliche Zungenküsse verpönt sind, wäre solch ein Verhalten an anderen Ort ein Skandal gewesen. Hier fanden jene Paare, die nicht unverheiratet zusammen leben durften, Zuflucht. Selbst lesbische und schwule Paare liebkosten sich in aller Öffentlichkeit. Niemand schien sie zu beachten.
Wie viele andere Tänzer sprangen auch Diwata und Marian in das grellblaue Schwimmbecken, das von einer Seitentür der Diskothek zu erreichen war. Der Pool war im Freien, ebenso wie eine Bar, in der alkoholische Getränke, Wasser, Coca-Cola, Sprite und Fruchtsäfte verkauft wurden. Neben der Bar, unmittelbar vor dem Freibad, standen Liegestühle, auf denen man in Ruhe seinen Cocktail genießen konnte. Noch immer war es mit 25°C sehr warm, obwohl das Morgengrauen nicht mehr lange auf sich warten ließ. Viele Besucher des Clubs schwammen bekleidet oder in Unterwäsche im lauwarmen Wasser, andere schlürften am Beckenrand Cocktails, ihre Füße im Wasser baumelnd.
Marian beobachtete Virgilio und stellte fest, dass er einen jugendlich athletischen Körper hatte. In seiner Lockerheit war er kaum noch wiederzuerkennen. Handelte es sich um denselben konservativ gekleideten und etwas steif wirkenden Mann, den Marian gestern Morgen auf der Militärparade gesehen hatte? Imelda wirkte an seiner Seite bezaubernd und schien perfekt zu Virgilio zu passen.
Es war schon drei Uhr morgens. Immer mehr junge Leute stürzten sich in den Pool, um sich abzukühlen. Einige junge Frauen und Männer, die offensichtlich einen über den Durst getrunken hatten, rissen sich ihre Kleider vom Leib und sprangen splitternackt ins Wasser. Die Ordnungshüter duldeten diese Provokation zunächst eine Weile. Als jedoch immer mehr folgten, forderten sie die betrunkenen Gäste freundlich auf, den Pool zu verlassen, was diese jedoch nur sehr widerwillig taten.
Ab drei Uhr morgens lichteten sich die Reihen. Marian saß allein auf einem der Liegestühle und wusste nicht, ob er träumte. Täuschten ihn die Sinne? Hatte jemand Drogen in seinen Cocktail gefüllt? Was er sah, war unglaublich. Im Wasser stand Diwata, umkreist von zierlichen und langhaarigen jungen Frauen aus vielen Ländern. Einige, darunter auch Imelda, kamen von den Philippinen, andere stammten aus weiteren asiatischen Ländern wie Japan und Korea, manche aus Kenia und Marokko, Brasilien, Australien, Indien und Israel. Waren es Models, die danach strebten, Miss World zu werden? Ihr Teint umfasste die Farben Weiß, Brünett, Braun und Schwarz. Auch ihre Haarfarbe war unterschiedlich. Etwas hatten jedoch alle gemein: Sie waren von außergewöhnlicher, jugendlicher Schönheit. Das Tor zum Erwachsenensein hatten sie gerade durchschritten, sich zugleich jedoch noch die unschuldige Anmut ihrer Sturm-und-Drang Zeit bewahrt. Bis zur Hüfte standen die nur mit Slips bekleideten Frauen im Wasser. Die Schönste von allen, die in der Mitte stehende „Göttliche“, war nackt. Sie und die anderen Frauen warfen sich gegenseitig einen goldenen Ball zu. Marian starrte die Frauen an. In einer Vision sah er mit seinem inneren Auge, wie flüchtig die Schönheit der Mädchen war.
Wie schön ihr seid, ihr Seerosen. Und wie bezaubernd du bist, meine Lotusblüte. Doch in einem Atemzug werdet ihr verwelken und eure Schönheit wird vergehen. Erfreut euch eurer Jugend, genießt jede Sekunde eures ungetrübten Daseins. Euer Traum hat gerade begonnen, doch sehr bald wird er schon wieder ein Ende finden. Was bleibt, ist das Leben.
Diwata brach, des Freundes Gedanken lesend, aus dem Kreis und rannte weinend auf ihren Geliebten zu. Die anderen jungen, noch unerfahrenen Frauen kicherten leise aus Verlegenheit.
„Wer hat dir erlaubt, andere Frauen anzuschauen, geschweige denn mit ihnen zu sprechen“, lachte Diwata auf ihrem Rückweg zum Taxi. Der Tag hatte bereits begonnen, schon jetzt um halb sechs Uhr morgens herrschte reger Berufsverkehr. Wie gut, dass Marian sich einen Tag frei nehmen konnte. Offenbar hatte er doch nicht geträumt. Er wusste, dass die Bemerkung seiner Freundin nicht ernst gemeint war, denn Diwata kannte gewöhnlich keine Eifersucht. „Inmitten schöner Perlen finde ich immer meinen Diamanten.“ Die schönen Sprüche verliebter Männer sind gewöhnlich nichts als schöne Worte, doch ihrem Freund nahm sie das Versprechen ab. Plötzlich blieb sie stehen und sah Marian mit ernster und trauriger Miene lange in die Augen. „Unser Traum kommt zu keinem Ende“, sagte sie leise, aber zuversichtlich. Dann bat sie ihn, sich auf einen Bordstein zu setzen und flüsterte ihm frohen Mutes ins Ohr: „Wir können unsere Frist immer wieder verlängern.“ Marian kämpfte mit den Tränen, weil er wusste, wie flüchtig die Liebe war.
Der morgendliche Traum wurde jäh beendet, als plötzlich drei vermummte, schwarz gekleidete Männer in schwarzen Springerstiefeln vor ihnen standen. Alle hielten Pistolen in ihrer Hand. „Geld her!“, sagte einer von ihnen mit tiefer Stimme: „Ich will dein Geld!“ Marian suchte in seiner Hosentasche und fand einige Pesos-Scheine. „Gib mir deine Kreditkarte, du Arsch!.”
Marian, der seine Kreditkarte vernünftigerweise zu Hause gelassen hatte, stammelte:
“Tut….tut mir leid, aber ich habe keine.“
„Willst du mich verarschen? Wo wohnst du?”
Diwata erklärte den Vermummten mit gespielter Ruhe, dass sie in der Nähe des Ayala Parks in Makati wohnten. Die Verbrecher hatten vor, Marian zu zwingen, seine Kreditkarte aus Diwatas Villa zu holen und dann zu seiner Bank zu fahren, um so viel Geld wie möglich von seinem Konto abzuheben.
„Antonio, vámonos“, sagte einer der Vermummten auf Spanisch. Antonio war ein kolumbianischer Drogendealer, der lange in Madrid gewohnt hatte und nun in Manila untergetaucht war. Er stand auf der Fahndungsliste der lokalen Polizei. Die Vermummten stießen ihre vor Angst zitternden Geiseln in einen alten, schwarzen und verbeulten Mercedes. Vermutlich war das Auto gestohlen. Antonio gab Gas, während die anderen beiden Männer ihre Pistolen an Diwatas und Marians Kopf hielten. Diwata erklärte auf Tagalog den Weg. Offensichtlich verstand auch Antonio die offizielle Sprache der Philippinen perfekt. Sie sprach zwar sehr gut Spanisch, war jedoch jetzt zu aufgeregt, um diese Sprache zu sprechen. Antonio fuhr wie ein Verrückter über die President Quiriño-Avenue, vermutlich, weil er befürchtete, von einem Polizeiauto verfolgt zu werden. Die anderen machten sich über Marian lustig. „Woher kommst du? Americano, Gringo?“ Als Marian sagte, dass er Deutscher sei, lachte der Andere: „Oh, German. Deutscher bald kaputt”. Er lachte wie ein Idiot, stolz darauf, die wenigen Brocken Deutsch, die er beherrschte, preis zu geben. Auf dem South Super Highway bewahrheitete sich das, was Antonio befürchtet hatte. Im Rückspiegel sah er die Polizei. Es kam zu einer wilden Verfolgungsjagd.
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