Tyler seufzte, „Mom bitte, ich will nicht weg von hier. Kannst du nicht noch mal mit Dad reden?“
„Vergiss es Schatz, du kennst deinen Vater mindestens genauso gut wie ich. Sein Entschluss steht fest, und schließlich bist du ja auch nicht ganz unschuldig an dieser Situation. Und jetzt entschuldige mich, ich muss noch arbeiten.“
Tyler warf sich heulend auf sein Bett. Er fühlte sich vollkommen verraten und verkauft. Warum ließ seine Mutter es bloß zu, dass er ihn einfach wegschickte? Hatte sie nicht genügend Mumm, um sich gegen ihren Mann durchzusetzen oder war sie einfach nur zu bequem? Vielleicht wollte sie ja am Ende sogar, dass Tyler aus ihrem Leben verschwand. Möglicherweise war er einfach nur ein unangenehmer Stressfaktor, in ihrem arbeitsreichen Dasein, auf den sie nur allzu gerne verzichten würde. Ihm blieb nur ein einziger Tag um sich von seinem bisherigen Leben und von seinen Freunden zu verabschieden. Was sollte er denen bloß sagen? Er konnte unmöglich zugeben, dass seine Eltern ihn loswerden wollten, dass sie ihn einfach nach England abschieben würden, um ihn in die Obhut einer vollkommen Fremden zu geben.
„Privatschule, eigene Suite mit Butler und einen Ferrari, … nicht schlecht, Alter, wirklich nicht schlecht.“ Tylers Freund Freddy zeigte sich sichtlich beeindruckt, „Aber ich finde es schon blöd, dass es so plötzlich kommt. Reicht es nicht, wenn du nach den Ferien nach Europa fliegst?“
„Na ja, diese Plätze sind heiß begehrt. Wenn du nicht schnell genug bist, dann hast du verloren. Aber es ist ja nur für ein Jahr, vielleicht komme ich sogar schon früher zurück. Den Stoff den die da durchkauen habe ich eh innerhalb kürzester Zeit auf dem Schirm.“ Tyler spielte seine Rolle verdammt gut. Schließlich hatte er auch die ganze Nacht lang gegrübelt, wie er seinen Freunden die Geschichte am allerbesten verkaufen konnte.
Sogar seine derzeitige Freundin Corinne glaubte ihm jedes einzelne Wort. Trotzdem fiel ihm der Abschied schwer. Er würde sie alle doch ziemlich vermissen, … was er eigentlich jetzt schon tat.
Corinne und Freddy bestanden darauf, ihn zum Flughafen zu begleiten. Grundsätzlich eine gute Idee. Aber was wäre, wenn seine hinterhältige Schwester ihn in letzter Sekunde verraten und seine tolle Story zunichtemachen würde?
„Das ist echt lieb gemeint, Leute, aber höchstwahrscheinlich werden wir sowieso wieder auf den letzten Drücker zum Flughafen fahren. Außerdem hasse ich theatralische Abschiedsszenen wie die Pest. Also lassen wir das lieber. Ich melde mich, sobald ich angekommen bin.“
Seine Schwester wollte glücklicherweise nicht mit zum Flughafen. Tyler fand den Abschied durch ihre geschlossene Zimmertür vollkommen ausreichend. „Tschau Kelly, mach‘s gut.“
„Tschau Tyler, bis die Tage.“
Doch Mister Thornton bestand bedauerlicherweise auf mehr, „Komm gefälligst raus, Kelly, und verabschiede dich vernünftig von deinem Bruder.“
Ihm blieb auch wirklich gar nichts erspart. Jetzt musste er, zu allem Übel, auch noch die Umarmung seiner Todfeindin ertragen und dabei gute Laune heucheln. Konnte es denn überhaupt noch schlimmer werden?
Das Flugzeug startete mit leichter Verspätung. Das Essen schmeckte scheußlich und das angebotene Unterhaltungsprogramm war einfach nur schlecht. Irgendwann schlief Tyler ein und träumte. Er träumte von einer steinalten, buckeligen Frau mit Hakennase und einer gewaltigen Warze am Kinn. Sie wohnte in einem Haus aus Lebkuchen und zeigte Tyler gerade seinen Schlafplatz. Drei Strohballen in einem Käfig aus Knochen sollten ihm als Bett dienen. In einem Kessel über dem Feuer brodelte eine übel riechende Masse.
„Grandma hat für dich gekocht, Tyler. Saure Stierhoden in Fischaugensuppe. Das magst du doch so gerne, … nicht wahr?“
Angewidert rührte er in der schleimigen Brühe herum, worauf ihm furchtbar schlecht wurde.
Tyler schlug die Augen auf. Ihm war tatsächlich ganz schrecklich übel, deshalb begab er sich auf schnellstem Wege zur Bordtoilette. Gerade noch rechtzeitig klappte er den Deckel hoch, dann musste er sich auch schon übergeben. Sein Magen krampfte und in seinem Kopf hämmerte ein gleichbleibender, bohrender Schmerz. Er fühlte sich hundeelend. Was war bloß los mit ihm?
Tyler wusch sich das Gesicht und schaute in den kleinen Spiegel. Hatte er einfach nur etwas Falsches gegessen oder lag es doch eher an dieser vertrackten Situation? Noch vor wenigen Stunden schien seine Welt vollkommen in Ordnung zu sein und jetzt befand er sich plötzlich auf einem alles verändernden Flug ins Ungewisse. In diesem Moment verspürte er ein Gefühl von Angst, das er so gar nicht kannte. Das Schicksal hatte ihm eine Schlinge um den Hals gelegt und zog sie ganz langsam zu.
Jemand klopfte an der Tür, „Ist alles in Ordnung, junger Mann?“
Die freundliche Stewardess, die Tyler vor der Tür erwartete, schien ehrlich besorgt zu sein, „Geht es ihnen nicht gut? Kann ich irgendetwas für sie tun?“
„Haben sie vielleicht eine Kopfschmerztablette für mich?“
Sie lächelte, „Aber natürlich. Gehen sie ruhig zurück auf ihren Platz, ich bringe ihnen gleich etwas.“
Kurz darauf servierte sie ihm einen heißen Tee, ein paar Plätzchen und eine einzelne Tablette. „Das ist ein schnell wirkendes, gut verträgliches Mittel gegen Kopfschmerzen und Übelkeit. Sie müssen die Pille einfach nur auf der Zunge zergehen lassen. Wenn es trotzdem nicht besser wird oder sie noch etwas brauchen, dann drücken sie einfach auf den Knopf.“
„Vielen Dank, ich glaube ich komme jetzt zurecht.“
Glücklicherweise benötigte Tyler die Dienste der zuvorkommenden Flugbegleiterin tatsächlich nicht mehr denn der Tee, die Plätzchen und das Wundermittel taten ihre Wirkung. Nachdem Tyler alles zu sich genommen hatte, dauerte es keine fünf Minuten und er war wieder eingeschlafen.
Ein ziemlich müder Chef Inspektor
Barnaby Fuller fühlte sich vollkommen erschlagen. Offensichtlich wurde er langsam zu alt für diesen Job. Seit drei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen. Das Einzige, was er jetzt noch wollte, war eine schöne heiße Tasse Tee und eine besonders große Mütze voll Schlaf.
Das Cottage seiner langjährigen und besten Freundin Ruth lag eingebettet in einen wunderschönen Garten, etwas außerhalb von Counterfoil Grove, der wahrscheinlich ungewöhnlichsten Kleinstadt im Herzen von England. Praktischerweise kam er auf seinem Heimweg sowieso bei ihr vorbei, deshalb waren auch keine größeren Anstrengungen von Nöten, um vor dem Schlafengehen noch eine Tasse von Ruth‘ herrlich duftendem Tee abzustauben.
Da er seine alte Freundin um diese Zeit auf ihrer Terrasse vermutete, machte er erst gar keine Anstalten an die Haustür zu klopfen. Er ging auf direktem Weg am Haus vorbei, wo er auch auf Anhieb fündig wurde. Ruth Collins saß in ihrem Schaukelstuhl, auf der kleinen überdachten Veranda, und las ein Buch.
„Barnaby, wie schön dich zu sehen“, sie begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange, „setz dich doch, mein Lieber. Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?“
„Ich dachte schon, du würdest nie fragen“, erschöpft ließ sich der Chef Inspektor in einen der Korbstühle fallen.
Drei Stückchen Zucker und drei Teelöffel Milch, Ruth wusste genau was Barnaby Fuller jetzt brauchte. „Du siehst müde aus. Was ist los?“
„Hast du denn keine Zeitung gelesen, oder Nachrichten gehört?“
„Nein, ich habe die letzten drei Tage, meinen Garten mal wieder richtig auf Vordermann gebracht. Ich hatte gar keine Ambitionen …“, Ruth stutzte, „Es ist schon wieder passiert, nicht wahr?“
Der Inspektor sparte sich die Antwort. Stattdessen nahm er lieber einen großen Schluck aus seiner Tasse.
„Wer ist es diesmal?“
„Die kleine Woods, von der Oaksfarm.“
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