„Sie wollen also diese wichtigen Dokumente hier im Tempel vor fremdem Zugriff schützen“, folgerte ich.
„Aber nicht doch!“, sagte der Hohepriester und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Wir haben eine viel bessere Verwendung für sie.“
Er nahm einen der Folianten und stand auf. Magi Achain griff nach dem zweiten. Die beiden gingen zum Kamin und warfen die Bücher geöffnet in die Flammen. Die Ledereinbände fingen jedoch nicht Feuer und die Blätter verkohlten nur langsam. Aber die Glut war so heiß, dass sicherlich nur noch zwei Häufchen Asche übrig bleiben würden, wenn man lange genug wartete.
Borran, der sitzengeblieben war, rief: „Bravo!“ Er hob sein Glas, um den beiden Männern zuzuprosten.
Im nächsten Moment warf mich ein gewaltiger Stoß zu Boden. Der Tisch und die anderen Möbel schienen durch den Raum zu tanzen. Bücher fielen aus den Regalen und von der Decke stürzte ein Marmorbrocken herunter, groß genug, um einen Menschen zu erschlagen. Zum Glück traf er niemanden.
Achain, der es geschafft hatte, stehenzubleiben, half dem Hohepriester auf. Auch ich war schnell wieder auf den Beinen.
„Was war das?“, rief ich.
„Die Erde hat gebebt“, antwortete Achain. „Das hatte ich von Anfang an befürchtet.“
3
Es war früher Morgen in Dongarth, der Hauptstadt der Ringlande. Eine Staubwolke lag über der Stadt, die sich mit den Rauchschwaden von Bränden mischte. Schreiende Menschen irrten durch die Straßen auf der Suche nach einem Heiler für sich oder ihre Angehörigen. Dachteile und Mauerbrocken machten Wege unpassierbar.
Ich nahm dies nur am Rande wahr, während ich Fürst Borran den Hang hinauf zu seiner Residenz begleitete. Wir hatten den Tempel des Einen Gottes durch den Haupteingang verlassen, weil die unterirdischen Gänge zu unsicher waren. Ihre Stabilität musste erst überprüft werden. Auch im Tempel hatte es Verletzte gegeben, aber insgesamt war das Bauwerk weitaus weniger von dem Erdstoß betroffen, als die meisten Häuser, an denen wir vorbeikamen.
Obwohl Dongarth nicht Fürst Borran unterstand, sondern direkt dem Königshaus, wandten sich Bürger hilfesuchend an ihn, wenn sie ihn erkannten. Er verwies sie an die Stadtwache und versprach manchem Verzweifelten, der sein Heim verloren hatte, Geld für den Wiederaufbau. Trotz des Durcheinanders brauchten wir nicht lange, um die Tore seiner Residenz zu erreichen. Dort hatten die Wachsoldaten damit zu tun, Bittsteller abzuhalten. Borran drängte sich zwischen ihnen hindurch ins Haus. Es wies auf den ersten Blick keine Schäden auf, aber das mochte im Inneren anders aussehen, insbesondere in den Räumen, die in den Felsen des Berges Zeuth hinein reichten.
Ich kehrte um, sobald der Fürst in Sicherheit war. Von hier oben konnte ich die Folgen des Bebens gut erkennen: Schwer getroffen hatte es vor allem die Altstadt und die Nordstadt, wo viele Häuser baufällig gewesen waren. Dort brannte es auch an verschiedenen Stellen. In den besseren Vierteln dagegen schien es weniger Schäden gegeben zu haben. Ich drehte mich um und musterte die Königsburg und die Akademie des Zeuth. Beide sahen unversehrt aus. Die Akademie wechselte gerade die Farbe ihrer Außenmauer in ein dunkles Rot. Die Magier waren verärgert, diesmal nicht über böswillige Mitmenschen, sondern über die Launen der Natur.
Alle Brücken über den Donnan und die Reena schienen intakt. Menschen rannten über sie auf die Stadttore zu, um sich draußen vor den Mauern in Sicherheit zu bringen.
Schließlich suchte mein Blick ein ganz bestimmtes Haus, das ich aber wegen des vielen Staubs in der Luft nicht erkennen konnte. Hoffentlich war Jinna nichts passiert.
Langsam ging ich hinunter in die Innenstadt. Dongarth hatte Glück gehabt. Die Erde hatte zu einer Zeit gebebt, als die meisten Menschen noch schliefen. Nur wenige waren in den Straßen unterwegs gewesen und herabstürzenden Dachziegeln zum Opfer gefallen. Außerdem war es Frühsommer, kaum jemand hatte ein Feuer angefacht. Im Winter, wenn in jedem Haus geheizt wurde, wäre womöglich die ganze Stadt in Flammen aufgegangen.
Während ich mir einen Weg durch die Stadtmitte Richtung West-Tor suchte, überlegte ich, was die Worte von Magi Achain zu bedeuten hatten. Warum hatte er ein Beben erwartet? Von solchen Naturereignissen wurden nur die südlichen Teile der Ringlande häufiger heimgesucht, wo der Gebirgszug nicht so stabil war, von dem unsere Heimat ihren Namen hatte. Die Erde bebte immer wieder, aber die Menschen wussten damit umzugehen. Ihre Häuser waren entsprechend gebaut und stürzten nicht bei der ersten Erschütterung ein. Hier in Dongarth, in der Mitte des Landes, hatte es so etwas meines Wissens vor Jahrhunderten zuletzt gegeben.
Die Brücke über die Reena, die ich überqueren musste, um zum Marktplatz am West-Tor zu gelangen, wies Risse auf. Aber da anderen Bürger und sogar ein Fuhrwerk sie überquerten, hatte ich keine Bedenken, hinüberzugehen.
Bald sah ich das Handelshaus Oram. Es war unbeschädigt und in seiner Nähe gab es auch keine Brandherde. Erleichtert ging ich weiter.
Die Straßen füllten sich zunehmend, nicht nur mit Personen. Viele brachten ihren Besitz und ihre Möbel ins Freie, weil sie den Einsturz ihrer Häuser befürchteten oder mit Nachbeben rechneten. Ich kam an einer Familie vorbei, die aus Vater, Mutter und drei Kindern bestand. Sie häuften alle möglichen Gegenstände in einer Ecke auf. Mir erschien gerade dieser Platz besonders gefährdet, falls die Erde sich noch einmal bewegte, denn über ihnen hingen noch Teile des Dachs mit Tonschindeln. Aber die Ecke schien ihnen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.
Doch das war nicht nur wegen der über ihnen hängenden Gefahr ein trügerisches Gefühl. Denn die Familie gehörte nicht zu den Armen der Stadt - wohl niemand in dieser Wohngegend war arm. Die Frau hielt einen Stoffbeutel umklammert, aus dem eine goldene Kette heraushing. Vermutlich hatte sie ihren ganzen Schmuck zusammengerafft und trug ihn nun bei sich.
Ein junger Mann, der zwei Schritte vor mir ging, warf sich plötzlich herum, sprang auf die Frau zu und entriss ihr den Beutel. Der versuchte Raub zahlte sich nicht für ihn aus, denn ich hatte in der Diebesgilde gelernt, meine Umgebung niemals außer Acht zu lassen. Auch während ich die Familie beobachtete, hatte ich immer wieder die Menschen in meiner Nähe kurz gemustert. Dass der Kerl den Beutel anstarrte und die Muskeln spannte, entging mir nicht. Kaum hatte er den Schmuck in der Hand, packte ich ihn an der Jacke, riss ihn herum und verpasste ihm eine Ohrfeige, die ihm vermutlich nicht nur das Trommelfell platzen ließ, sondern auch den Kiefer aus dem Gelenk schob. Denn er ließ seine Beute fallen, heulte auf wie ein getretener Hund und rannte davon. Man muss nicht besonders kräftig sein, um so zuschlagen zu können. Ordentlich Schwung zu holen und die Handfläche genau auf dem Ohr des Gegners zu platzieren, genügt.
Ich gab der Frau ihren Besitz zurück, warnte vor dem überhängenden Dach und ging weiter. Der junge Mann, den ich verjagt hatte, war nicht der einzige, der versuchte, aus der Situation Vorteile zu ziehen. So schlimm es klingen mochte, aber Dongarth war nie eine Stadt für die Schwachen und Gutgläubigen gewesen. Doch nun wagten sich all die Elemente ans Tageslicht, die es sonst scheuten und ihrem Gewerbe lieber im Dunkeln oder versteckt nachgingen. Sogar mancher gute Bürger nutzte das Durcheinander, um seinen Nachbarn um wertvollen Besitz zu erleichtern. Warnrufe, Verwünschungen und Handgemenge brandeten überall auf.
Da ich nichts bei mir hatte, was zu stehlen sich lohnte, wurde ich nicht belästigt. Vielleicht war auch meine Schlagfertigkeit im Umgang mit dem Dieb beobachtet worden. Jedenfalls erreichte ich den Eingang des Handelshauses Oram ohne weitere Zwischenfälle.
Dort sah es zunächst so aus, als wäre nichts vorgefallen. Am Haus konnte ich keine Schäden erkennen, sogar die Glasfenster waren heil geblieben. Wie immer war es umgeben vom Geruch der vielfältigen Düfte und Aromen, mit denen Jinna handelte. Ich schien in eine Oase der Idylle und des Friedens zu kommen, als ich die Tür erreichte.
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