„Man erwartet dich“, sagte er, als ich ihn erreichte.
Merion stand im Eingang eines Hauses. Ich sah ihn nur, weil ich wusste, dass der besonders dunkle Bereich vor mir sein Umhang sein musste. Er hatte die Stoffmaske wieder übergezogen, wodurch sein Gesicht verdeckt war. Nun reichte er mir den Tragesack mit den beiden Folianten.
„Ich zeige dir einen Weg zum Hintereingang des Tempels, den nur wenige kennen“, sagte er. „Du wirst noch öfter hineingehen müssen, ohne gesehen zu werden. Dort entlang.“
Er führte mich durch Nebenstraßen um den Tempel herum. Ich fragte ihn, wie er auf die Idee kam, ich müsse den Hohepriester künftig häufiger besuchen, aber er antwortete nicht. Also schwieg ich und achtete darauf, ob wir verfolgt wurden.
Merion öffnete die Tür zu dem kleinen Hinterhof eines heruntergekommenen Hauses. Dort gab es einen Kellerzugang, wie man ihn in alten Zeiten oft genutzt hatte, nämlich in Form einer schräg an die Hauswand angebauten Klappe. Sie ermöglichte es, Heizmaterial und Vorräte in den Keller zu bringen, ohne dass man die Waren durch das Haus tragen musste.
„Ein unterirdischer Gang, der bis zum Tempel reicht?“, fragte ich ihn.
„Was sonst? Einer von mehreren.“
„Ich habe noch nie davon gehört“, gab ich zu. „Welche Geheimnisse haben die Priester, dass sie solche Gänge benutzen müssen?“
„Viele!“, antwortete er. „Du gehst jetzt alleine weiter. Grüße Fürst Borran von mir.“
Ich stieg vorsichtig tastend die Treppenstufen hinunter. Merion schloss die Klappe und ich stand einen Moment im Dunkeln.
Dann wurde ich vom Licht einer Sturmlampe angeleuchtet. Ich versuchte zu erkennen, wer diese Lampe hielt, aber meine Augen waren so an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich geblendet war.
„Willkommen!“, sagte eine Männerstimme. „Folgen Sie mir.“
Der Lichtschein schwenkte in eine andere Richtung und ich sah, dass ein Priester mich begrüßt hatte. Er trug eine braune Kutte mit einer Kordel. Das war ein ungewohnter Anblick, denn gewöhnlich achteten die Priester des Einen Gottes darauf, in makellosem Weiß gekleidet zu sein.
Ich folgte dem Mann mehrere Treppen hinunter, bis wir durch eine Tür einen Gang erreichten. Es gab in größeren Abständen Seitentüren, die mich vermuten ließen, dass man von dort aus weitere geheime Zugänge betreten konnte.
Der Gang mündete schließlich in einen runden Raum. Von hier aus führten breite Stufen zurück nach oben. Wir befanden uns nun unter dem Tempel. Boden, Wände und Decke bestanden aus weißem Marmor, ebenso wie die Treppenstufen.
Oben gelangten wir in eine weite Halle, in der uns zwei Priester begrüßten, die in das gewohnte Weiß gekleidet waren. Der Mann in der braunen Kutte verließ uns.
Ich hielt weiterhin den Tragesack mit den beiden Folianten fest, und ich muss zugeben, dass ich zu eingeschüchtert war, um Fragen zu stellen. Den Priestern folgend ging ich durch mehrere Räume, die zunehmend wohnlicher eingerichtet waren. Sah ich zunächst nur Pulte und Statuen mit Darstellungen niederer Götter, so folgten Zimmer mit Schreibtischen und Stühlen, in denen vermutlich tagsüber gearbeitet wurde.
Schließlich öffneten die beiden Priester die Flügel einer hohen Tür und bedeuteten mir, einzutreten. Sie selbst blieben draußen.
Erstaunt sah ich mich um. Ich befand mich in einem großen, behaglichen Wohnraum, wie ich ihn eher in der Residenz eines Fürsten oder im Haus eines reichen Handelsherrn erwartet hätte. Kaum etwas erinnerte an die Strenge des Tempels. An den Wänden hingen so viele Gemälde und Teppiche, dass ich an kaum einer Stelle den Marmor sah. Auch breite Bücherregale trugen ihren Teil dazu bei. Die Möbel waren gediegen, aus dunklem Holz, die Stühle und Sessel mit Leder bezogen. Mehrere Lampen lieferten ein warmes Licht und ganz hinten flackerte ein kräftiges Feuer im Kamin, das die Kühle der Nacht vertrieb.
Drei Männer saßen bequem in Sesseln zurückgelehnt um einen Tisch. Sie sahen mir erwartungsvoll entgegen: Echterion, der Hohepriester des Einen Gottes, Magi Achain von der Magischen Akademie des Zeuth und Fürst Borran. Vor ihnen standen Weinflaschen und Gläser zwischen Papieren und geöffneten Büchern. Es kam mir vor, als hätte ich eine gemütliche Herrenrunde gestört.
„Aron, endlich!“, rief mir Borran zu. „Ich hoffe, Sie waren erfolgreich.“
Ich hielt den Tragesack hoch, um seine Frage zu beantworten, und ging zu den drei Männern hin. Der Hohepriester erhob sich und gab mir die Hand, als sei auch er nur ein gewöhnlicher Sterblicher. Achain tat es ihm nach, während der Fürst mir nur lächelnd zunickte.
„Dann lassen Sie mal sehen“, forderte Borran mich auf und schob Flaschen und Papiere beiseite.
Vorsichtig holte ich die beiden Folianten aus dem Sack und legte sie auf den Tisch. Man sah ihnen an, dass sie nicht besonders sorgfältig behandelt worden waren. Die Ecken der Buchdeckel waren eingeknickt und bei einem zog sich ein langer Kratzer über die Vorderseite.
„Es gab Probleme unterwegs“, erklärte ich und zeigte auf die Schäden. „Ich hoffe, das kann man wieder in Ordnung bringen.“
„Unwichtig“, sagte Borran und schlug den ersten Folianten auf.
Die drei Männer steckten die Köpfe zusammen und studierten die Texte und Abbildungen. Soweit ich erkennen konnte, handelte es sich um Baupläne und Beschreibungen. Aber Sinn ergab das Wenige, das ich sah, für mich nicht.
„Zweifelsohne das, was wir gesucht haben“, sagte Achain schließlich. Er wandte sich zu mir um. „Waren die Folianten in dem Raum, den man Ihnen geschildert hat?“
„Richtig. Wir haben sie schnell gefunden.“
„Haben Sie Hinweise auf häufige Benutzung gesehen?“, fragte er weiter.
„Im Gegenteil. Dieser Bereich des königlichen Archivs ist seit Jahren nicht mehr betreten worden. Überall lag Staub. Nicht nur auf den Büchern, sondern auch auf dem Boden. Wir hatten Mühe, unsere Spuren darin unkenntlich zu machen.“
„Also haben wir Glück gehabt!“, rief Borran. „Noch ist niemand auf den Gedanken gekommen, diese Unterlagen zu suchen. Und nun ist es zu spät für unsere Widersacher.“
„Sehen wir uns den zweiten Band an, bevor wir uns zu unserer Weitsicht gratulieren“, empfahl der Hohepriester.
Das taten sie, aber nicht mehr so gründlich wie beim ersten. Dann schlugen sie auch diesen Folianten zu. Sie strahlten sich an, als hätten sie einen großen Erfolg erzielt, und stießen mit ihren Weingläsern an.
„Darf ich fragen, worüber Sie sich so freuen?“, fragte ich. „Was sind das für Bücher?“
„Dies, junger Mann, sind die einzig existierenden Baupläne für Teile der Magischen Akademie und des Tempels des Einen Gottes“, erklärte der Hohepriester. „Sie zeigen die unterirdischen Bereiche der Gebäude. Geheime Keller und Gänge, wie zum Beispiel den, durch den Sie zu uns geführt wurden.“
„Sicherlich wäre es nicht gut, wenn solche Pläne in die falschen Hände geraten“, gab ich zu. „Aber warum gibt es sie überhaupt und warum musste ich sie stehlen?“
„Es gibt sie, weil das Königshaus schon in frühesten Zeiten auf seinem Recht bestand, über alles Bescheid zu wissen, was die Akademie und diesen Tempel betrifft. Alle Bauarbeiten mussten dokumentiert und die Pläne dem königlichen Archiv zur Verfügung gestellt werden. Zu unserem Glück geriet die Existenz dieser Bücher im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit. Zumindest im Königshaus. Nicht jedoch bei uns. Magier und Priester waren sich dieser Schwachstelle immer bewusst. Nun haben wir uns entschlossen, zu handeln.“
Ich konnte mir den Grund dafür denken. Die Königin-Witwe herrschte zwar über die Ringlande, bis ihr Sohn alt genug war, um den Thron zu besteigen. Aber die eigentliche Macht ging von ihren Beratern aus. Viele von denen waren Kurrether, allen voran Rat Geshkan.
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