Borran saß hinter dem Schreibtisch und las einen Brief. Ab und zu raschelte etwas, dann kratzte eine Feder über Papier, vermutlich verfasste er eine Antwort, die später von einem seiner Schreiber ins Reine geschrieben und abgeschickt wurde.
Ich suchte auf der Karte nach Orten, an denen ich selbst schon gewesen war, und fand sie alle korrekt eingezeichnet. Mir unbekannt war im Wesentlichen die südliche Hälfte der Ringlande. Dorthin hatten mich meine Reisen noch nicht geführt. Die Städtenamen sagten mir nichts und die Landschaftsmerkmale schienen mir in manchen Gegenden nicht sonderlich einladend.
„Südöstlich des Berges Zeuth“, hörte ich die Stimme des Fürsten hinter mir. „Suchen Sie Eronstedt, die Hauptstadt der Provinz Arbaran. Von dort aus weitere einhundert Meilen in dieselbe Richtung, ein wenig südlicher.“
Ich sah mir die Stelle auf der Karte an, die er so beschrieb. Es schien eine von Tälern durchzogene, karge Landschaft zu sein, jenseits des Flusses Murran. An Borran gewandt fragte ich: „Was befindet sich dort?“
„Die Ruinen von Kabh“, antwortete er. „Die suchen Sie doch, oder?“
„Woher wissen Sie ...“, begann ich verblüfft. Ich hatte weder mit ihm noch mit sonst jemandem über die Begegnung mit den Kurrethern und die Bemerkung der Schreiberin gesprochen.
„Ich höre vieles“, entgegnete er leichthin.
„Diese Ruinen sind nicht auf der Karte verzeichnet.“ Ich deutete auf die Stelle, an der ich sie vermutete. „Etwa hier?“
„Etwas weiter nördlich. Wie die Bezeichnung schon sagt, ist es ein Ort, der nicht mehr bewohnt wird. Deshalb haben wir ihn auch nicht erfasst.“
„Und was ist an diesen Ruinen so wichtig, dass die Kurrether ein Buch darüber suchen?“
„Vermutlich haben sie Gerüchte gehört, nach denen ich mich für die Ruinen interessiere. Aber ich habe in den letzten Monaten Dutzende von abgelegenen, unbewohnten Orten in den Ringlanden von Kundschaftern aufsuchen lassen. Deshalb ist belanglos, ob Rat Geshkan oder sonst jemand davon erfahren hat. Er kann nicht alle diese Orte überwachen.“
„Wieso sollte er das tun?“
„Nun, Sie wissen, wofür die Bibliothek eingerichtet wird. Wir beachten dabei alle Sicherheitsvorkehrungen. Aber es ist nicht unmöglich, dass sie doch eines Tages zerstört wird. Durch ein Feuer, Hochwasser, Einbrecher ...“
„Oder durch ein Erdbeben“, fügte ich hinzu.
„Zum Beispiel. Deshalb wurde entschieden, von den wertvollsten Schriftstücken nicht nur eine, sondern zwei Kopien anzufertigen. Eine davon wird an einem entlegenen Ort gelagert. Selbst wenn Dongarth untergeht, so ist nicht alles Wissen verloren.“
Ich setzte mich unaufgefordert auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
„Sie müssen ein großes Unglück für unsere Heimat befürchten, wenn Sie solche Vorkehrungen treffen“, sagte ich „Und das nicht erst in ferner Zukunft, sondern in wenigen Jahren. Was ist es?“
Fürst Borran zuckte mit den Schultern. „Nichts, was Sie nicht bereits wüssten. Wenn man alles, was hier vor sich geht, in Gedanken in die Zukunft weiterverfolgt; wenn man die wahrscheinlichen Entwicklungen und möglichen Komplikationen berücksichtigt - dann kann man zu der Überzeugung kommen, dass es an der Zeit ist, Vorkehrungen zu treffen.“
„Werden Sie konkreter!“, forderte ich.
„Denken Sie selber nach“, konterte er in entschiedenem Tonfall. „Wichtig ist, dass dies alles geheim bleibt. Für Vorgänge, die sich nicht geheim halten lassen, muss ein passender Vorwand gefunden werden.“
„Wie zum Beispiel die Einrichtung einer Bibliothek. Gibt es noch Anderes in dieser Art?“
Es klopfte, was ihn einer Antwort enthob. Sein Leibdiener Romeran kam herein.
„Eine Nachricht von Stadthauptmann Corram“, meldete er. „Ein schwer verletzter Reiter ist auf dem Händlerwasen eingetroffen und dort vom Pferd gestürzt. Er konnte nicht mehr viel sagen, aber er wollte unbedingt zu Ihnen.“
„Er hat sich beim Sturz verletzt?“, fragte Fürst Borran nach.
„Nein. Stadthauptmann Corram sagte, der Mann sei bei einem Kampf verwundet worden und habe sich auf seinem Pferd bis auf den Händlerwasen retten können, wo ihn die Kräfte verließen.“
„Lebt er noch?“
„Ich gehe davon aus“, sagte Romeran.
Borran wandte sich an mich: „Aron, kümmern Sie sich darum.“
„Bin schon unterwegs.“
Ich folgte dem alten Diener hinaus. „Wer hat die Nachricht gebracht?“
„Ein Mann von der Stadtwache. Er ist bereits wieder weg.“
„Dann werde ich Cham Corram direkt aufsuchen.“
Das war allerdings gar nicht nötig, denn der erste Wachmann, dem ich auf meinem Weg hinunter in die Stadt begegnete, hielt mich an. Er sagte, ich solle schnellstmöglich zu einem bestimmten Heiler in der Altstadt gehen. Auf dem Weg dorthin wurde ich drei Mal aufgehalten von weiteren Wachleuten, die denselben Hinweis loswerden wollten.
In dem Haus des Heilers fand ich dann den Stadthauptmann persönlich vor, zusammen mit den zwei Männern, die ihn immer begleiteten. Auf der Liege, vor der sie standen, lag ein Toter. Man hatte bereits ein Tuch über sein Gesicht gelegt.
„Sie kommen zu spät“, sagte Corram.
„Schneller ging nicht“, rechtfertigte ich mich. „Wer ist das?“
„Wir wissen es nicht. Was ich aus seinem Gestammel herausgehört habe, ist folgendes: Er war mit zwei anderen Männern als Bote auf dem Weg zu Fürst Borran. In einem Dorf namens Prankhorst haben sie Rast gemacht. Kaum waren sie wieder unterwegs, wurden sie überfallen. Er konnte sich schwer verletzt retten.“
„Hatte er etwas bei sich? Einen Brief, ein Erkennungszeichen?“
„Nichts, seine Taschen sind ebenso leer wie die Satteltaschen seines Pferdes. Vielleicht war etwas darin und es wurde unterwegs gestohlen, vielleicht waren sie aber auch schon zu Beginn der Reise leer.“
„Wo liegt dieses Prankhorst?“
Corram wusste es nicht, aber der Heiler, ein dürrer alter Mann mit Ziegenbart, sagte: „Südöstlich von Dongarth, acht Meilen entfernt. Es ist gutes Bauernland: Getreidefelder, Kuhweiden und Wälder. Aber der Ort selbst besteht nur aus ein paar Häusern.“
„Danke. Ich werde mich dort umsehen. Ist die Gegend bekannt für Räuberbanden oder anderes gesetzloses Pack?“
„Nein, dort gibt es nichts zu stehlen. Die Bauern sind nicht arm, aber auch nicht wohlhabend. Der dortige Fürst schneidet sich einen ordentlichen Teil ihrer Einkünfte ab.“
„Zu welcher Provinz gehört das Dorf?“, wollte ich wissen.
„Arbaran. Es liegt im Grenzgebiet zur Provinz Borran.“
„Ich reite hin“, sagte ich zu Corram. „Bitte sagen Sie dem Fürsten Bescheid, falls Sie hier noch etwas herausfinden.“
Er nickte und ich ging hinaus.
11
Serron war klein, schlank und in jeder Hinsicht unauffällig. Wenn er überhaupt eine sichtbare Waffe bei sich hatte, so war es ein gewöhnlicher Dolch am Gürtel. Sollte ihn jemand angreifen, so würde derjenige aber schnell merken, dass Serron mehrere Wurfmesser in seiner Kleidung versteckte. Und mit denen traf er mit tödlicher Genauigkeit.
Gendra und Martie dagegen waren ehemalige Söldner, und das sah man ihnen schon von weitem an. Sie waren groß, muskulös und trugen immer ihre Schwerter bei sich. Man hätte sie für ein Paar halten können, wenn man sie in perfekter Harmonie Seite an Seite kämpfen sah. Gingen beide mit gezogenen Waffen auf Gegner los, so sah das fast aus wie ein einstudierter Tanz. Gendra als Frau wurde von Angreifern meist unterschätzt, und sie wusste das auszunutzen. Machte ein Mann diesen Fehler, war es manchmal der letzte seines Lebens.
Alle drei gehörten zu meinen engsten Freunden und hatten lange Reisen mit mir unternommen. Jeder von uns wusste, dass er sich auf die anderen verlassen konnte, jeder kannte die Stärken und Schwächen der anderen, weshalb wir uns wunderbar ergänzten.
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