Zwei kräftige Arme rissen Kurt nach oben und stießen ihn vorwärts. Er stolperte, wurde gestoßen. „Lauf Junge, lauf um dein Leben!“ hörte er durch die gierig fressenden Flammen. Hinter Kurt: Husten, Röcheln. Die harte Hand stieß ihn weiter, stieß in seinen Rücken, stieß ihn vorwärts, weiter von Gleisen fort. Fort von seinen Schwestern. Fort von seiner Mutter. Watte legte sich auf Kurt, dann ein immer höher werdendes Pfeiffen. Ein lauter Knall. Er spürte eine weitere Druckwelle und das Röcheln hinter sich hörte er ein letztes Mal. Kurt rannte. Die Stimme war nicht mehr bei ihm. Kurt war allein. Allein mit sich und dem Pfeiffen in seinen Ohren.
Ich war bei ihm und folgte jedem seiner Schritte.
Kurt lief, fiel erschöpft in einen Graben. Kurt fror. Kurt hustete und rannte weiter. Er blieb erst stehen, als der Husten keine Luft mehr rein- und rausließ, er nicht mehr atmen konnte. Kurt fiel auf die Knie und erbrach sich. Er schnappte nach Luft, hustete und übergab sich erneut. Seit Tagen hatte er nichts Richtiges mehr gegessen, nur Baumrinde gekaut. Er würgte nur Schleim, Galle und fädrig bittere Säure nach oben. Kurt wischte sich mit dem Ärmel der gestrickten Jacke sein Gesicht ab.
Seine Mutter strickte den ganzen Tag, zumindest als es noch Wolle gab. Sie strickte sogar kurze Hosen, die er und seine Geschwister im Sommer anziehen mussten. Ging eine Hose kaputt, mussten die Kinder beim Aufribbeln der Wolle helfen. Sie hielten das kaputte Kleidungsstück, ob nun Socken, Hosen, Leibchen oder Jacken hoch, während die Mutter das Gestrickte aufribbelte. Den Faden dann durch eine Wasserschüssel gleiten ließ, danach um eine Stuhllehne spannte und nach dem Trocknen wieder in ein Wollknäuel verwandelte. Kurze Zeit später klickerten die Nadeln ihre Heimatmelodie. Das war schon immer so. Doch schien es weit her.
Kurt sah sich um. Er wusste nicht, wie weit er gelaufen war. Die Sonne versteckte sich früh in diesen Tagen. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Hinter Kurt lag ein kleines Waldstück, rechts und links nur brache Krume. Einige beleuchtete Häuser winkten ihm durch das wirre Geäst des Knicks zu. Kurt setze sich auf einen verwitterten Kilometerstein vor einer Heckenrose und legte die Arme um seine Brust. Immer wieder suchten seine Augen die Wärme der Lichter. Erst als sich zwischen den Häusern niemand mehr bewegte, drückte er sich hoch. Seine Knie gaben nach, seine Füße gehorchten ihm nicht. Er fühlte weder Kälte noch Schmerzen. Kurt streckte behutsam seine Zehen und trampelte langsam auf. Immer und immer wieder, bis es anfing zu kribbeln. So machte er es immer nach langen Schneeballschlachten zu Hause. Früher, vor der Flucht. Auch das war schon weit her. Kurt fürchtete sich vor diesem Kribbeln. Es tat weh und keine Mutter war da, die die Füße hätte reiben können. Als das Kribbeln nachließ, duckte er sich und schlich am Knick entlang.
Er kam näher. Ich sah seinen kleinen Körper und sein Gesicht zittern. Ich roch seine Angst.
Kurt drückte sich am ersten Haus vorbei und an einem zweiten. In beiden Häusern brannte Licht. Am dritten Haus quetschte er sich hinter eine Ligusterhecke. Die blutig verkrusteten Händchen drückten die knorrigen Äste langsam auseinander. Schräg hinter dem Haus stemmte sich ein verwitterter Holzschuppen gegen eine Schneewehe.
Kurt kroch auf allen Vieren an der Hecke vorbei. Er nahm sich zwei Hände voll Schnee und steckte ihn in den Mund. Dann zwängte er sich durch einen Spalt in der Schuppentür. Eggen, Spaten, Seile, Hacken und Harken ruhten sich an den Wänden aus. Gerätschaften standen nach fleißiger Arbeit in der Ecke und sammelten Kräfte für das kommende Frühjahr. Eine Schubkarre lag auf der Seite. Holzscheite daneben. Kurt tastete sich langsam vor. Alte Säcke und Strohballen stapelten sich bis unter die brüchige Decke. Seine Zähne klapperten wie die Äste auf dem Schuppendach. Einige Triebe wuchsen durch Spalten in der Schuppenwand ins Innere und eroberten ihre neue Heimat. Kurt setze sich auf einen Strohballen und schaute sich um. Es war viel dunkler, aber auch wärmer als draußen. Kurt klemmte sich zwei Leinensäcke unter den Arm und kletterte an den Strohballen hoch. Oben angekommen riss er einen Ballen auseinander und formte das Stroh zu einem Bett. Einen Sack legte er auf das Stroh, damit es nicht piekte und in den anderen kroch er bis zum Hals. Das restliche Stroh kratzte er über sich zusammen. Kurt zog Kopf und Arme ein. Der Sack roch nach Kohle. Sofort erinnerte er sich an den Bahnhof, an seine Geschwister, an seine Mutter. Aber noch bevor sich weitere Erinnerungen in einem salzigen Strom den Weg durch seine Augen bahnen konnten, schlief er ein.
Kurt schreckte hoch. Etwas raschelte im Stroh. Irgendwo schrie eine Krähe. Eine Zweite antwortete. Kurt kämpfte darum wach zu bleiben, doch der Schlaf zog ihn zurück in sein Reich. Einmal glaubte Kurt Stimmen zu hören, einmal die Sonne durch den Holzverschlag zu sehen. Alles nur Blitzlichter der Erinnerung. Er schlief weiter.
Zuerst wusste Kurts Unterbewusstsein, dass er wach wurde. Noch bevor er seine Augen öffnen konnte und sein Körper aus der Schlafenswelt zurück war, rieb er sich mit beiden Händen seine verklebten Augen auf. Sein Hals war geschwollen. Schlucken fiel ihm schwer. Kurt öffnete seine Augen und rieb an ihnen, bis sie schmerzten. Ruß und Heu kitzelten in seiner Nase. Er hustete und erschrak. Er krächzte. Er nieste, alles tat ihm weh. Sein Magen forderte lautstark sein Recht. Seine Zunge war trocken, klebte am Gaumen und er konnte den Husten nicht unterdrücken. Es hörte nicht auf. Seine Augen tränten und eine salzige Spur zog sich durch das geschwärzte Gesicht. Kurt rang nach Luft. „Mama, bitte! Mama!“ rief er und schlug sich vor Schreck eine Hand vor den Mund. Er wurde herumgerissen. Er spürte eine schwere Hand auf seiner Schulter, dann eine zweite auf seinem Arm. Hände, die zugriffen wie ein Schraubstock. Es wurde feucht und warm in seinem Schritt. Kurt spürte, wie es seine Schenkel hinunterlief. Der Dunst des warmen Urins kroch aus dem Geruch von kalter Kohle. Kurt strampelte, zerrte und fing an zu schreien. Er hatte nicht bemerkt, wie tief er in das Stroh geraten war. Draußen war es hell. Die kräftigen, schorfigen Hände hielten ihn fest. Sie zerrten Kurt aus dem Stroh und drehten ihn um.
„Ist schon gut, kleiner Mann, ist schon gut. Wer bist du denn?“
Kurt strampelte und biss in die Hand, die ihn hielt. Mit einem Aufschrei löste sich der Griff. Rücklings robbte Kurt bis in die letzte Ecke des Speichers. Er blinzelte direkt in die Sonne. Der Mann blieb Schatten und Stimme.
„Bleib ruhig“, sagte die tiefe Stimme. „Bleib ruhig, ich tu' dir nichts!“
Die Nässe in Kurts Hose wurde kalt. Er zitterte. „K-Ku-Kuuurt. Kurt bin ich.“
„Hallo Kurt, ich bin Hans. Hast du Hunger Kurt, ist dir kalt?“
Kurt nickte und kroch noch tiefer in die Ecke.
„Willst du mit mir ins Haus kommen? Da ist es warm. Ich hab den Ofen angefeuert.“
Kurt nickte. Die Kälte, der Hunger, der Durst, alles war stärker als die Angst, war stärker als die Scham über den feuchten Fleck in seiner Hose. Kurt schnäuzte sich die Nase im Ärmel seiner zerrissenen Wolljacke und kroch nach vorne. Er konnte sich kaum auf allen Vieren halten und rutschte auf seinem Bauch weiter.
„Komm Kurt, keine Angst! Ich gehe vor und lass die Tür offen. Nimm dir Zeit, und wenn du magst, komm einfach rüber.“
Die Leiter stöhnte unter der Last von Hans.
Durch einen Spalt in der Schuppenwand lockte das warme Haus. Kurt presste sein Gesicht fest gegen das rissige Holz. So, als könne er die Wärme durch die Winterluft hinweg in sich aufsaugen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen als Hans ein Stück Brot, etwas Wurst und ein Glas Milch auf den Tisch stellte. Kurt rieb seinen Bauch und spürte sein Innerstes rebellieren.
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