Stefan erinnerte sich an seine Oma und wie sie bei jedem Gewitter und jeder Sirene auf der Kellertreppe kauerte. Oma saß in ihrer Kittelschürze da, auf dem Schoß hielt sie eine grüne verbeulte Metallkiste, in der sie die wichtigsten Papiere und Schmuck aufbewahrte. Stefans Mutter saß daneben, er auf ihrem Schoß. In der Zeit, in der Stefan aufwuchs, gab es regelmäßig Probealarme von den Dächern der Häuser in der Nachbarschaft. Die Rhythmen der Sirenen waren unterschiedlich. Die Auswirkungen immer gleich: Oma auf der Kellertreppe.
Oma weinte jedes Mal, wie auch seine Mutter. Und jedes Mal, wenn es gewitterte, erinnerte Stefan sich daran. Er ahnte den Grund hinter den Tränen, aber verstanden hatte er es nie.
Der Warder stand mit breit aufgestellten Beinen vor Stefan. Seine Arme hielt er hinter dem Rücken verschränkt, während Tanja ihn mit technischen Fragen bombardierte. Stefan hatte keine Lust mehr, sich weiter umzusehen. Er fühlte sich unwohl und heimisch zugleich. Tanja wollte unbedingt ein Angebot abgeben. Stefan hatte nur die Bilder aus dem Internet auf sich wirken lassen und versuchte den jetzt aufkeimenden Smaltalk zu ignorieren.
„Sie kommen also aus Kiel; haben Sie gut hergefunden? Krähenstein ist ja nicht einfach zu finden.“
„Doch, das ging ganz gut“, sagte Tanja.
„Zum Haus gehört auch der Thorsberg, das Moor dort unten“, erklärte der Warder weiter. „Die Gegend ist wirklich sehr schön. Haben Sie schon vom Moor gehört?“ wollte er wissen und drehte sich auf der Kellertreppe um.
„Nein, wir sind fremd hier.“ Tanja lächelte.
„Ich könnte Ihnen noch so viel erzählen, auch von den Vorbesitzern, Hans und seinem Sohn! Ich bin hier quasi groß geworden. Aber das können wir ja mal nachholen, wenn Sie an dem Haus wirklich interessiert sind.“ sagte der Warder weiter. Stefan sah die Enttäuschung in Tanjas Gesicht. „Ja gern, ich will alles wissen.“ Tanja hoffte noch mehr zu erfahren, doch der Warder drehte sich weg.
„Warum wollen Sie es wieder verkaufen? Sie haben noch nicht einmal die Renovierung beendet.“ wollte Tanja wissen.
„Ich habe meine Gründe! Sind Sie schon im Moor gewesen? Und schauen Sie mal, der Ofen hier, der ist fast neu! Sommer und Winter sind immer die besten Zeiten, um Moore zu begehen“, lenkte Warder ab.
„Das habe ich mir gedacht“, log Tanja.
„Kennen Sie die Geschichte?“
„Was für eine Geschichte?“
„Während des Dritten Reiches sollen die Einwohner von Krähenstein und aus dem Umland ihr Hab und Gut vor den Nazis im Thorsberg versenkt haben. Ein richtiger Schatz soll da liegen! Von irgendwelchen Kisten ist die Rede.“
„Oh, das klingt spannend. Hat schon jemand danach gegraben?“
„Soviel ich weiß schon. Wenn Sie selbst dort graben wollen, ich kenne den Besitzer vom Kieswerk. Der hilft bestimmt mit einem Bagger aus.“ Warder blinzelte: „Und ich helfe natürlich auch gern!“
„Naja, erstmal kaufen, dann renovieren und einziehen. Vielleicht irgendwann mal.“
„Es ist nur eine Geschichte, die man sich über das Moor erzählt. Während der Besatzung hat die Stasi im Moor gegraben, erzählt man sich. Die haben tagelang gesucht aber nichts gefunden. Sie wissen ja, wie das mit Geschichten und Gerüchten ist. Die gibt es überall.“
„Ja, da haben Sie recht. Kommen sie aus Krähenstein?“
„Nein, aber mein Opa. Hatte ich das nicht erwähnt?“
„Nein, hatten Sie nicht.“ Tanja holte tief Luft und stellte eine drückende Frage: „Wie sieht es mit dem Preis aus?“
„Da gibt es nichts zu verhandeln. Das ist ein Festpreis. Ich will schnell verkaufen, deshalb ist es schon so günstig. Und die wichtigsten Arbeiten sind auch erledigt. Entweder wollen Sie es, oder sie lassen es!“ Die Stimme vom Warder wurde bestimmter.
Stefan war in Gedanken im Thorsberg.
Bei mir, um mir meine Geheimnisse zu entreißen.
„Gut, dann habe wir alles gesehen“, Stefan drehte sich um, „danke für Ihre Zeit. Falls wir noch Fragen haben, werden wir uns melden.“
„Ja gern, aber machen Sie schnell. Es gibt noch mehr Interessenten.“
Natürlich gab es keine Fragen, dachte sich Stefan. Tanja hatte sich längst entschieden. Und nun stand er mit einem Bagger im Moor.
Ich wartete, war gespannt und spürte die Unsicherheit von Stefan. Er war nahe, vielleicht zu nahe. Er war der Erste seit Jahren, der kam, um mir etwas zu entlocken.
Stefan holte noch einmal Luft. Die Ketten fraßen sich tiefer ins Moor. Er hielt inne und nahm die Hände von den Lenkhebeln. Seine Gedanken glitten mit dem Wind durch den Nebel, zu dem Haus, zu Hans.
Hans klagte nie.
Das Kindbettfieber raubte ihm die Frau. Sein Junge blieb. Haus und Grundstück nährten ihn und seinen Sohn Jürgen. Hans hatte nichts gelernt, doch er konnte alles etwas. So schaffte er es immer wieder, ein wenig Geld für das Nötigste zu raffen. Sie kamen über die Runden. Mehr erwartete Hans nicht vom Leben. Essen, Trinken, Wärme. Und wenn Gott es zuließ, vielleicht noch Schnaps und Tabak. Von Zeit zu Zeit ging er in den Thorsberg, stach Torf und sammelte Holz für den Winter, ging auf die Jagd oder pflückte Beeren. Der Thorsberg war gut zu ihm und mehr brauchte er nicht.
Zu seinen Nachbarn hatte Hans kaum Kontakt. Das lag nicht daran, dass er nicht beliebt war, sondern daran, dass Hans nach dem Tod seiner Frau die Ruhe seiner Räume suchte. Anfangs ging er in den Dorfkrug und trank mit den Bauern aus der Umgebung. Dort bediente auch die etwas jüngere Elisabeth, die in die Bäckerei eingeheiratet hatte. Hans und Elisabeth kannten sich von Kindesbeinen an. Sie spielten und wuchsen gemeinsam auf. Noch bevor Achselhaare das andere Geschlecht locken konnte, schliefen sie zusammen im Stroh oder saßen im Sommer gemeinsam in einem Holzbottich voll mit kaltem Regenwasser.
Hans lächelte still.
„Wenn du dein Hemd ausziehst, ziehe ich meins auch aus“, hatte er Elisabeth am Rande eines Roggenfeldes einmal vorgeschlagen. Sie waren unzertrennlich, so auch auf dieser Schnitzeljagd. Sie versteckten sich in einer Schneise, die der Wind ins Korn geschlagen hatte.
„Aber ich will mein Hemd nicht ausziehen“, sagte Elisabeth bestimmt. „Schade!“ Hans drehte sich beleidigt zur Seite.
„Hans, Hans, ist alles gut?“ fragte Elisabeth.
„Jaja, ich dachte nur, wir wären Freunde“, sagte er leise.
„Das sind wir doch auch.“
„Na, also. Wenn du dein Hemd ausziehst, mache ich es auch.“ Hans glühte. Elisabeths Wangen wurden rot. Sie musste die Träger ihrer Schürze herunterklappen und hatte ihr Leibchen schnell über den Kopf gezogen.
„Jetzt du!“ Verlegen schaute sie auf ihre Füße.
Hans war schneller aus seinem Hemd als französische Seemänner in Singapur.
Minutenlang wagten sie nicht sich anzusehen.
„Nun wird mir aber kalt“, klagte Elisabeth leise.
Hans hörte die Enttäuschung in ihrer Stimme, und noch bevor sie ihr Leibchen wieder überstreifen konnte, linste er wie zufällig zur Seite. Er lugte auf die festen apfelförmigen Brüstchen, die stramm aufblühten. Er sah roten Flaum in den Achseln, die kecken Brustwarzen und den langen roten Zopf, der davor baumelte. Er schämte sich ob seines Blickes und seiner eigenen Brust. Er hatte mehr, und die hingen auch noch. Hans zog sein gräuliches Hemd über.
„Komm, lass uns gehen, die finden uns nicht“, sagte Elisabeth. Sie sprachen nie wieder darüber. Sie haben sich nie wieder so gesehen.
Hans war eingedöst und schreckte aus einem Traum hoch. Er stöhnte sich von der Bettkante und hielt sich an Wand und Türrahmen fest. Hans spürte klebrigen Schweiß auf seiner Stirn. Nicht von der Anstrengung. Nicht vom Schreck. Erinnerungen machen Schweiß klebrig. Er glaubte, etwas aus Richtung des Schuppens gehört zu haben. Es klang wie ein Husten. Hans ächzte sich einen Raum weiter, stöhnte auf und sackte in seinen Ohrensessel vor dem Ofen in der guten Stube. Er setzte die Flasche mit Selbstgebrannten an seine Lippen und der Inhalt brannte im Rachen. Drei Mal fand die betäubende Flüssigkeit ihren Weg. Die klebrigen Bilder der Erinnerung aber blieben. Hans seufzte und drückte seinen Kopf in den speckigen Nacken. Er döste wieder weg und sein Körper wurde von der Macht des Schlafes im Sessel gehalten. Er zuckte und schnell sickerten Erinnerungen wie ölige Tropfen in seinen Traum.
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