Mit einem Ruck öffnete Stefan dessen Kabinentür. In seinem Kopf kreisten die Anweisungen des Vermieters. Er hoffte, den Bagger ohne abzurutschen von der Rampe zu bekommen. Dabei lachte er kurz auf, welch tolles Bild: Ein Minibagger auf der Seite und er darin eingeklemmt.
Stefan dachte an seine Mutter, die wenige hundert Meter weiter im Haus saß. „Ich muss mich konzentrieren“, flüsterte er in die Kabine.
Sein Blick schweifte über Hebel und Anzeigen. Bei kalter Witterung den Motor vorglühen und zehn Minuten warmlaufen lassen, fiel ihm ein. Stefans Hand zitterte, als er den Schlüssel in das Zündschloss steckte. Die Vorglühanzeige leuchtete kurz und erlosch wieder. Stefan drehte den Schlüssel ganz herum. Der Motor stotterte erst und lief dann unruhig an. „Ich verzichte auf das Warmlaufen“, murmelte er, legte die Hände um die Lenkhebel, öffnete sie wieder und ballte sie um die Hebelköpfe herum zu Fäusten. Stefan zog beide Lenkhebel nach hinten. Der Anhänger wackelte. Die Raupen quietschten. Der Bagger rumpelte rückwärts.
„Merde, Merde!“ fluchte Stefan die Lenkhebel an, als der Bagger auf die Rampen schwankte. Kurz ließ er den rechten Hebel los. Die linke Kette drehte weiter. Stefan zog den rechten Hebel wieder nach hinten und merkte, wie der Bagger schräg wegrutschte. „Nicht loslassen!“ befahl er seinen Händen. Langsam richtete sich der Bagger aus, rollte von der Rampe und blieb stehen. Die Kabine war beschlagen. Stefans Stirn war nass. Er holte zweimal tief Luft und drehte den Bagger auf der Stelle, indem er den linken Lenkhebel nach hinten und den rechten nach vorne schob. Die Raupen fraßen sich schmatzend durch den matschigen Untergrund. Dann rollte er vorwärts.
Ich empfinde keine Schmerzen; ich habe keine Gefühle.
Stefan hatte die Kabinentür geöffnet. Es roch faulig. Blätter und Gräser westen. Es stank nach sterbender Erde, es stank nach Leben.
Nach einigen Metern blieb Stefan stehen. Der Nebel verweigerte dem Scheinwerferlicht die Sicht.
Der Nebel ist mein Freund. Genau wie die Nacht die Verbündete der Liebenden und der Bösen ist; und das seit Jahrtausenden.
Stefan schüttelte seinen Kopf. Erst jetzt erkannte er die Unsinnigkeit seiner Suche. Er wagte sich kaum tiefer ins Moor und wusste nicht, wo er anfangen sollte.
Ich könnte es ihm sagen, ihm den Weg weisen. Ich habe mich nie eingemischt.
Der Wind blies stärker und lockte den Nebel ihm zu folgen. Stefan rollte zu der Stelle, an der er Tage zuvor die Lichter gesehen hatte. Von dort ließ sich der Hügel erahnen, auf dem er gelegen hatte.
Er seufzte schwer, griff beide Steuerhebel und begann zu graben. Überall hieb er die Schaufel in den sumpfigen Leib und riss große Fetzen aus ihm heraus. Wasser, Pflanzen und Erde spritzen auf und ergossen sich von der Schaufel zurück in die frisch gerissenen Wunden. Bereitwillig nahm der Sumpf sie wieder auf und bildete eine Einheit, die gefällig war. Allmählich gab sich der Boden der gefräßigen Schaufel hin. Bei jeder Bewegung des Auslegers stöhnte Stefan, als müsste er selbst einen Spaten in die Erde treiben. Er rollte mit dem Bagger vor und zurück, drehte sich, fuhr tiefer ins Moor. Die Narben im Untergrund blieben zurück. Wasser füllte sie, wie Blut den Riss in Stefans linker Hand.
Noch dauerte es, bis der Morgen die Nacht von ihrer Wacht ablösen konnte. Aber er würde kommen und die Nacht erlösen, wie der Wind den Nebel aus seiner Starre befreite. Stefan hieb die Schaufel erneut in die Erde und traf auf etwas Hartes. „Eine Wurzel?!“ Ein weiterer Hieb, dann setzte er den Bagger ein Stück vor und schwenkte den Ausleger weiter aus. Vorsichtig zog er ihn zurück. Die Schaufelzinken kratzen über etwas, es quietschte metallend. Stefan stellte sich in die Hocke auf den Sitz und verharrte in der Kabine. Er starrte durch die beschlagene Scheibe. Dann rutschte er in den Sitz zurück. Minuten verstrichen, bis sich sein Atem und seine Seele beruhigten. Dann stieg er aus und ging zur Schaufel. Verwundete Erde, schwarz, nass. Es stank nach Kloake. Stefan hielt sich die Hand vor die Nase. Bei jedem Schritt sank er tief in den moorigen Grund. Seine Zehen spielten in den Stiefeln und er hielt sie beim Gehen am oberen Rand fest, um nicht stecken zu bleiben. Stefan versuchte das Dunkel zu durchdringen; erkennen konnte er nichts.
Er fuhr einen weiteren Meter nach vorne und stieß die Schaufel, so tief er konnte, in den Boden. Dann zog er sie an. Sie hing, nur ein leichter Widerstand, aber sie hing. Stefan ließ die Steuerhebel los.
Der derbe Ostwind schaute sich merklich um. Einzelne Birken waren zu erahnen. Hinten wuchs Tanjas Haus aus dem Dunst. Die bronzene Glocke klagte über dem langsam schwindenden Nebel. Stefan stellte den Motor ab. Eine beengende Stille nahm Besitz von der Luft um ihn herum. Sein Gesicht streckte sich dem Wind entgegen und jede Brise streichelte mit Eishänden den Schweißfilm von seiner glühenden Haut. Stefan seufzte tief in seinem Sitz.
Viel war passiert! Viel zu viel, seit er und Tanja das Haus mit dem riesigen Grundstück in Krähenstein gekauft hatten. „Es soll wohl ein Schatz im Thorsberg liegen“, sagte der Warder damals beim Verkauf und zeigte über das Moor, das zum Haus gehörte. „Aber es gibt ja immer Geschichten um Moore.“
Stefan haderte mit einer Böe. Sie trieb seine Gedanken über den Bodennebel hinweg durch das Tal, über die kahlen Baumwipfel und ließ die Bilder der letzten Wochen zurück.
Das Haus erinnerte Stefan sehr an das Haus seiner Oma.
Von der Straßenseite führten einige Stufen nach oben zur Haustür. Die linke Seite der unteren Stufen war von einer Mauer begrenzt. Bei schönem Wetter konnte man darauf sitzen und in der Morgensonne seinen Kaffee trinken. Auf der Rückseite kam man über eine Feldsteinterrasse zur Klöntür. Davor lümmelten ebenfalls drei Stufen. Von dort sah man über eine Wiese, in deren Mitte drei große Kirschbäume lebten. Eine Reihe Apfelbäume, am linken Rand der Wiese, grenzte das danebenliegende Stück Bauland ab. Hinter Wiese und Bauland lag das Moor.
Stefan stand während der Besichtigung vor dem Haus und erinnerte sich an seine Oma, wie sie auf ähnlichen Stufen mit Tante Traudl und seiner Mutter saß. So sitzend hatten sie Erbsen gepuhlt, Bohnen geschnippelt, Johannesbeeren gestrippelt oder Erdbeeren von ihren Blättern befreit.
Tanja lief aufgeregt um das Haus und sprühte vor Ideen. Spooki, ihr kleiner Havaneser, der stark an einen Gremlin erinnerte, stand auf dem Fahrersitz, machte sich lang und versuchte durch den geöffneten Spalt im Fenster möglichst viele Gerüche aufzunehmen.
Wenn man durch die Klöntür ins Haus trat, war linker Hand eine Wohnküche. Rechts die Werkstatt und dahinter die Waschküche. In der Waschküche standen ein alter verruster Badeofen und eine Zinkwanne. Den Badeofen musste man mit Holz anheizen, wenn man im warmen Wasser liegen wollte. Ging man durch die Wohnküche, kam man gerade durch in eine Stube und von dort nach rechts in ein Schlafzimmer. Zur rechten Hand der Wohnküche lag ein weiteres Zimmer. Hinten links, vor der eigentlichen Haustür, führte eine Treppe nach oben. In der Diele, direkt rechts neben der Klöntür, lag unter einer Bodenklappe eine hohl ausgetretene Holztreppe, die in den halben Kriechkeller führte. Auf der einen Seite lagen Eierkohlen, Holz und Kohlebriketts und auf der anderen lagerten Kartoffeln, Eingemachtes und Äpfel auf einem Holzrost. Es roch feucht nach Kohle, Kartoffeln und überreifen Äpfeln. Im Keller gab es nur eine Leuchte. Die musste man in Höhe der obersten Stufe mit einem Drehschalter einschalten. Das diffuse Licht verbreitete mehr Schatten und Unbehagen, als es die Kirche tat, in der sie als Kinder Messdienst leisteten. Ihre Oma war immer stolz und saß in der ersten Reihe.
Ging man die steile Treppe in der Diele nach oben, kam man rechts in ein großes und links ein kleines Schlafzimmer, dahinter war unausgebauter Bodenraum. Von dort ging es durch eine Luke auf einen staubigtrockenen Spitzboden.
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