Hans wurde nach oben gerissen. Er spürte den Alkohol in seinem eigenen Atem und roch seinen alten Schweiß. Säuerlich, herb. Frischer floss dazu. Sein Kopf ruckte herum.
„Sind Sie Herr Haack? Hans Haack?“ fragte SS-Hauptmann von Harenburg. „Sie haben Ihren Sohn im Haus versteckt!?“
„Er ist mein einziger Junge!“ Hans war mit einem Schlag hellwach.
„Sie können damit unseren geliebten Führer ehren. Da Sie selbst so maßlos fett sind und keinen Dienst für ihr Heimatland leisten können, geben Sie uns Ihren Sohn.“
„Herr Hauptmann, bitte! Ich brauche ihn für die Feldarbeit und im Haus.“
„Wenn Sie in der Jugend mehr Sport getrieben hätten, könnten Sie ihrem Vaterland selbst dienen. So, wie der Führer es erwartet!“
„Erwartet der Führer, dass wir für ihn sterben?“
„Für Führer und Vaterland zu sterben, ist der ehrenvollste Tod, den wir erringen können.“
„Wieso den Tod erringen? Der ereilt uns sowieso. Dafür brauche ich nicht zu kämpfen.“
„Der Deutsche kennt nur Führer und Vaterland!“
„Das Vaterland soll uns erst leben lassen, bevor wir dafür sterben.“
„Das ist ...“ Hauptmann Harenburg lief rot an und griff nach seiner Walther.
„Den Tod erringen?“ spottete Hans. „Ist das ein Wettkampf? Den kann jeder gewinnen!“ Und als er in die Mündung der Pistole schaute, fragte er lachend: „Wie es aussieht, bin ich jetzt Sieger?!“
Gleichzeitig bäumte sich die Walther auf. Beißender Pulverdampf umschmeichlte das finstere Gesicht von Hauptmann Harenburg. Hans stolperte und verlor den Halt, als die Kugel in sein Muskelfleisch eindrang und im Oberschenkelknochen steckenblieb. Er brach unter der Last seines Körpers zusammen und stürzte zu Boden. Befreit von jeglichen Barrieren sprudelte das Blut lebenslustig auf die Feldsteine. Es dampfte leicht. Hans sah ungläubig lächelnd auf die zarten Wölkchen, dann kam der Schmerz. Er schrie und umfasste sein Bein; schwer und kalt.
„Sei froh, dass ich dich am Leben lasse, du fette Sau!“
Jürgen hatte den Schuss gehört und stolperte die Veranda nach oben. Atemreich und wortlos stürzte er sich auf seinen Vater, dann, in wilder Wut, auf Hauptmann Harenburg. Dreimal schlug Jürgen dem Hauptmann auf die Brust; die Orden klirrten. Es dauerte nur fünf Sekunden. Eine Ewigkeit für den Tod, zu kurz für das Leben, dann lag Jürgen im Blut seines Vaters. Der Sohn zuckte, strampelte, das halbe Gesicht war nicht mehr, sein letzter Atemzug bestand nur aus schaumigen Blutblasen. Hans zog sich durch beider Blut zu seinem Sohn.
„Ein Angriff auf einen SS-Offizier, darauf steht die Todesstrafe!“ schrie Hauptmann Harenburg den Soldaten entgegen, die aus dem Mannschaftswagen in die Diele stürmten. Dann spie er vor Hans auf den Boden. „Du dreckiger kommunistischer Judenfreund!“
Ein Soldat hob seine Mauser und richtete den Lauf auf Hans. Hauptmann Harenburg ersetzte die verschossenen Patronen in seiner Walther. Hans berührte den offenen Schädel seines Sohnes. Weißlich, blutig. Die Hoffnung eines jungen Lebens quellte aus Jürgen heraus, in die Hand seines Vaters. Nie hatte Jürgen die Hitze einer Frau geliebt. Schon wurde er kalt.
Hauptmann von Harenburg schob die Walther in das gefettete Halfter. Sie erzeugte ein sattes, leise quietschendes Geräusch. Dann hob er den Kopf und musterte Hans. „Wie ein Schwein vor seiner Schlachtung!“ lachte er. Die beiden Soldaten lachten mit. „Deine Judenfreunde fressen doch nur ausgeblutetes Getier“, lachte Harenburg weiter. Dabei legte er seine Hand auf den erhobenen Gewehrlauf des Soldaten neben ihm und drückte ihn hinunter. Hauptmann Harenburg ging zwei Schritte auf Hans zu und wäre beinahe ausgerutscht. Er hielt sich am Tisch fest und drückte seinen Stiefelabsatz in Hans' offenes Bein. Dunkles Blut quoll hervor.
Hans schrie auf.
„Verblute, wie der Fraß deiner Judenfreunde.“ Dann drehte er sich um und verließ die Diele. Die beiden Soldaten gingen rückwärts. In der Tür drehten sie sich um und blickten nicht mehr zurück. Vor Hans drehte sich alles, er sah wie durch einen Nebel. Jürgen, die Diele, alles kreiste immer schneller und verschwommener. Wie im Wahn schaffte er es noch, den Gürtel aus seiner groben Cordhose zu ziehen. Hans schrie auf und band den Gürtel, das einzige Geschenk seines Vaters, fest um den Oberschenkel. Dann wurde es schwarz.
Als Hans die Augen öffnete, schüttelte er seinen Kopf und schloss sie wieder. Beim zweiten Mal sah er in das Gesicht von Elisabeth. Sein Blick wurde klarer. Dann kam der Schmerz. Hans zitterte, lag noch immer auf dem Feldsteinboden seiner Diele, doch sein Bein war jetzt verbunden. Hans sah, wie der Körper seines Jungen auf die Terrasse und dann um die Ecke gezogen wurde. Es blieb eine zähe dunkelrote Schleifspur. Robert Flisch und Herbert Hirsch drückten Hans zu Boden. Auf den Blutlachen lagen mehrere Laken und Leinensäcke, doch das Blut kämpfte sich durch alle Schichten ans Licht.
Robert stand links und Herbert rechts von ihm. Sie schafften es kaum, Hans zu bewegen. Sie stöhnten unter der lebenden Last, und Hans schrie und wimmerte in ihren Armen. Dann wurde es wieder schwarz.
Tage und Wochen dämmerten an Hans vorbei. Mit ihnen schlich sich der Herbst ins Moor. Der Winter blieb. Sein Bein heilte nicht. Die Kugel steckte noch immer in seinem Knochen. Hans hatte Fieber. Hatte er kein Fieber, fehlte ihm die Luft. Dann wieder Fieber.
Die Beerdigung seines Sohnes fand ohne ihn statt. In der elften Woche kämpfte Hans sich auf die Bettkante, in der zwölften rutschte er auf faltigen Hautlappen auf einen Stuhl. Beide ächzten nicht.
„Wo liegt mein Sohn?" Hans stotterte und drückte sich vom Stuhl auf die Bettkante. Seine Wunden brachen auf. An seinem Schenkel fühlte Hans den Rinnsaal aus Blut und Eiter. Bei jeder Bewegung im Schlaf wachte er auf. Gegen das Vergessen brach die Wunde immer wieder auf.
„Er liegt draußen, bei deinem Vater.“
„Aber“, unterbrach Hans, „dort darf niemand liegen. Das ist kein geweihter Boden!“
„Der neue Pastor, Pastor Banger, hat ihn geweiht. Er ist jung ...“, Elisabeths Stimme brach. Hans wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Hans, es wird schlimmer. Die Nazis nehmen alles. All unser Hab und Gut und wer nicht mitjubelt, der wird fortgebracht.“
„Fortgebracht?“
„Du weißt doch, was sie über Dachau und Auschwitz erzählen. Und wenn sie nicht dorthin gebracht werden, gehen sie direkt in den Osten. Keiner wagt den Mund aufzumachen.“ Elisabeth griff die Hand von Hans.
„Wir brechen morgen auf, wir fliehen. Dein Mann ...“
„Mein Mann ist tot. Im Osten erfroren. Du warst im Wundfieber.“
Hans legte seine freie Hand auf die von Elisabeth. „Er ist bei meinem Sohn. Sie beschützen einander und passen auf uns auf.“ Elisabeth wurde von Tränen geschüttelt.
Hans horchte auf: „Still! Ich höre was.“
Über die Veranda dröhnten scharfe Schritte von schweren Ledersohlen näher. Die Tür wurde aufgestoßen.
Die Stiefel: blank poliert. Die Uniform: sauber und korrekt. Der Scheitel saß wie eingemeißelt. Hinter dem Unteroffizier erschienen zwei weitere Soldaten.
„Ach sieh an“, höhnte der Unteroffizier. „Ich habe schon gehört, dass sich der Judenfreund wieder bewegen kann. Aber fett ist er noch immer.“
Hans schaute auf den Boden.
„Na, willst' wohl immer noch nicht an die Front“, höhnte er weiter, „und hast dir auch gleich die geile Bäckerin kommen lassen. Der Herr Hauptmann hat uns alles erzählt.“
„Gar nichts hat er ...“
Der Unteroffizier schlug mit seiner Faust auf den Tisch. „Durchsucht das Haus! Hier sollen Juden versteckt sein!“
„Ich habe hier keine ...“ Der Unteroffizier schlug Hans ins Gesicht. „Seht euch nur diesen feisten Feigling an. Der hat sich durchs Fressen vor dem Dienst an unserem Führer gedrückt!“
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