Edith klopfte an und trat ein. Schattenberg hinterm Rüsterschreibtisch sprang auf. Mensch, ist der blaß, dachte sie. Schattenberg kam hinter dem Schreibtisch hervor, Wobei er seitlich hüpfende Bewegungen machte, denn eine Blattpflanze verengte ihm den Weg. Wahrscheinlich hat er sie schon mal umgekippt, und jetzt ist er vorsichtig, dachte.Edith. Rannte an ihr vorbei zur Tür, die er hinter ihr zumachte, als habe er ihr eilends Vertrauliches zu berichten und könne nicht erwarten, bis sie ungestört allein sind. Indem sie sich umwandte, entdeckte sie die beiden Männer, die in den Besuchersesseln saßen, und da wußte sie Bescheid.
. Deinen Gewerkschaftsausweis, sagte Schattenberg.
Was ist damit? fragte Edith.
Gib ihn mir, sagte Schattenberg.
Edith kramte in ihrem Täschchen. Dabei überlegte sie, wie sie sich verhalten sollte, holte Zigaretten und Feuerzeug hervor, und während sie sich eine ansteckte, sagte sie beiläufig:
Den Ausweis? Na, hör mal.
Ich muß ihn haben, sagte Schattenberg halsstarrig und streckte die Hand aus.
Na, sagte Edith und machte ein Gesicht, als sei sie entschlossen, ihm auf die Finger zu hauen, sollte er sich nicht beherrschen können.
Da erhob sich der größere der beiden in den Gästesesseln, reichte Edith ein Papier und sagte:
Das ist der Haftbefehl, Frau Schilder, ich bin Hauptmann Markschat von der Mordkommission. Sie werden beschuldigt, gemeinsam mit Gustav Sasse, Liesbeth Koslowski getötet zu haben.
Gibst du mit jetzt den Ausweis, rief Schattenberg drohend.
Ich denke nicht daran, sagte Edith.
Es sah so aus, als wollte Schattenberg das Dokument mit Gewalt einziehen. Blaß und mit bebenden Lippen drang er gegen sie vor.
Lassen Sie das, sagte Markschat.
Diese, diese, sagte Schattenberg mit bebenden Lippen.
Gleich fängt er an zu heulen, sagte Edith zu den Polizisten.
Jetzt stand auch der kleinere der beiden Kriminalisten auf und sagte, indem er auf die Tür wies:
Bitte.
Ist es wahr, sagte Edith, daß ich jetzt mit Ihnen gehen muß?
Ja, sagte Beer.
Und wenn ich mich weigere, sagte Edith.
Lasse ich Sie vorführen, sagte Beer.
Diese, diese, sagte Schattenberg.
Na, sagte Edith zu den Polizisten, ob der jemals noch ein anderes Wort herausbringt?
Als Edith im Vorzimmer die vollen Einkaufsnetze sah, ging sie hin und hob sie auf. So bepackt, wollte sie schon durch die Tür, als Markschat ihr in den Weg trat.
Lassen Sie das, sagte er.
Das ist für meine Familie zum Wochenende, sagte Edith.
Markschat schaute Schattenberg an und sagte: ›
Sorgen Sie dafür, daß es der Familie umgehend ausgehändigt wird.
Vor dem Richter, nachdem sie den stinkenden Sasse hinausgeschleift haben, wird Edith mit Bedauern daran denken, auf welch simple Art die kunstvoll verschleierte Tat aufgedeckt wurde. .
Von dem Tag, an dem sie zum erstenmal davon hörte, daß Liesbeth Koslowski schwanger sei, bis zu dem Tag, da Richter Pinthus ihr das Todesurteil verliest, werden anderthalb Jahre vergehen. Wenn Edith diese Zeit durchdenkt, so findet sie Fehler über Fehler, die andere gemacht haben, vor allem Sasse. Wie sorgfältig sie ihr Gewissen befragt, an sich wird sie keinen entdecken. Bedauern, ja. Auch Reue. Auch Schmerz.
Die Position, die sie sich geschaffen hatte, schien unerschütterlich zu sein. Heute noch heißt es bei langjährigen Mitarbeitern in der Grundstücks-verwaltung, wenn der Direktor sich tyrannisch aufführt, wenn das Kantinenessen nichts taugt, wenn die Prämie zu gering ausgefallen ist oder wenn es darum geht, die herzlose Anordnung der Obrigkeit abzuwehren: mit Edith Schilder, die bei uns damals die Gewerkschaft machte, wäre uns das nicht passiert.
Niemand verstand es so gut, mit Direktor Sasse umzugehen, wie Edith, Die Belegschaft freute sich immer, wenn sie sich auf Versammlungen den Chef aufs Korn nahm. Man ging gern zu ihr, denn meist wußte sie Rat. Auch die städtische Obrigkeit hatte Respekt vor ihr. Manchmal bekam Sasse einen roten Kopf vor Ärger, wenn sie ihn öffentlich angiftete. Aber griff ein anderer Sasse an, so verteidigte sie ihn. Sie war es auch, die ihn immer zu Prämien und Belobigungen vorschlug. Er dagegen betraute sie mit vertraulichen Aufgaben; und oft erhöhte er außer der Reihe ihr Gehalt. .
In der Belegschaft schmunzelte man darüber, denn man war Zeuge der öffentlich ausgetragenen Fehde zweier Menschen, die trotz Gift und Galle die Leistung des anderen achteten. Auch später, als die wahre Beziehung zwischen Sasse und Edith aufgedeckt wurde, hat keiner in der Grundstücksverwaltung von einer Täuschung gesprochen.
Sasse wirkte immer freundlich und zuvorkommend, so daß die ratsuchende Bürgerin, die sich Sorge machte um den Ofen, der vor Weihnachten nicht repariert werde, bedenkenlos ja sagte, wenn er sie einlud, nach Feierabend in einem netten Lokal die Sache nochmals gründlich zu bequatschen.
Sasse, Sasse, sagte Edith später, wenn sie in ihrem Versteck lagen, was bist du für ein Hahn.
Er lachte glücklich, zog sie zu sich, streichelte die feste Haut, das feste Fleisch,-während sich ihre Brüste schwer über ihn senkten, daß es ihm den Atem abschnitt. l
Mach das Haar auf, sagte er, Edith machte den Haarknoten auf, und lang fiel die braune Mähne auf Sasse, der gleich anfing, darin zu wühlen. Sein Spieltrieb war so entwickelt, daß er sich stundenlang-mit ihrem Körper befassen konnte, durch den es ständigin zitternden Wellen lief.
Am liebsten las er Bücher von früher, in denen ahnungslose und unschuldige Menschen von Schergen ergriffen, von Gerichtsherren verurteilt und von Scharfrichtern gevierteilt wurden,gehängt, gerädert, verbrannt, enthauptet, vergiftet, vom Felsen gestoßen, wilden Tieren vorgeworfen, zertrampelt, erschossen, erstickt, vor das Geschützrohr gebunden und von der Granate zerfetzt, erdrosselt und totgepeitscht wurden.
Dann wallte Zorn in ihm auf gegen die früher Herrschenden, und er fühlte sich brüderlich verbunden mit den Gemarterten. War gerührt bei dem Gedanken, daß diese Schandtaten der Vergangenheit angehörten. Atmete auf. Denn er lebte in einem Land, in dem Unmenschlichkeit abgeschafft worden war, wie er immer wieder betonte, und er legte sogar die Hand aufs Herz, und wo man sich aus Sorge um den Menschen unaufhörlich den Kopf zerbrach.
Wenn er las, wie im südamerikanischen Urwald vom Hubschrauber aus Jagd auf Indios gemacht wurde, nickte er wissend vor sich hin. Das eben war die unmenschliche Seite der Welt. Daß es diese Untaten im zwanzigsten Jahrhundert noch gab, in meinem aufgeklärten Zeitalter, sagte Sasse, als gehöre er zum inneren Kreis der Männer, die seine Epoche zu der gemacht hatten, die sie nun war, daß es dennoch Untaten gab, empörte ihn, stachelte ihn auf, und wenn Frau Mahnke mit der Spendenliste für Afrika kam, griff er rasch zur Brieftasche, ungeduldig fast, warum sie so lange auf sich warten lasse, zog einen Zwanzigmarkschein hervor und sagte:
Geben Sie mir zehn raus. r
War sittlich entrüstet und dankbar zugleich. Sittlich entrüstet über Verbrecher, die überall in der Welt noch existierten und regierten, dankbar, daß es in seinem Land Ruhe und Ordnung gab.
Ruhe und Ordnung, sagte er, sind das Wichtigste im Leben, Ruhe und Ordnung um jeden Preis.
Ohne sie hätte er nicht leben können. Gern las er Memoiren von Henkern.
Daß sich Sir Archibald Grandpiece, Ihrer Majestät der Queen geadelter Scharfrichter, in seinen Memoiren gegen die Todesstrafe aussprach, verblüffte Sasse sehr. Es schien ihm, als säge der Henker von London an dem Ast, auf dem er sitzt. Dabei war der Beweis, den er beibrachte, überzeugend wie selten einer. Sir Archibald erzählte nämlich, wie Räuber, Mörder und Blutvergießer ohne Reue und ohne aus ihrer Tat zu lernen vor den Henker traten und ihr Leben hingaben, sogar ohne auf den Tröstungen der Kirche zu beharren. Wenn es einer weiß, dachte Sasse, dann ist es Sir Archibald, der Missetätern den geseiften Strick um den Hals legte.
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