Daß Sasse ihn so lange hatte belügen können, war ihm unverständlich und erschreckte ihn. Es war eine seiner bittersten Erfahrungen. Er war auch mit Edith befreundet und hatte ihrer Aussage geglaubt. Nach seiner Enttäuschung über Sasses Lügen glaubte er ihr nicht mehr. Wenn es Mord war, dann kannte sie den Täter. Sasse hatte für den Mord ein Motiv, aber keine Gelegenheit zur Tat. Edith hatte die Möglichkeit, aber kein Motiv.
Und Wenn sie einen Dritten deckt? fragte Hetty.
Wer könnte das sein? fragte Stein.
Er lud Edith vor und sagte:
Ich hörte, Sie hatten Streit mit Ihrer verunglückten Freundin, Worum ging es?
Das kann ich nicht beantworten, sagte Edith, wir hatten nie Streit.
Liesbeth Koslowski und Herr Sasse wollten abhauen, sagte Stein. '
Das hat sie mir nicht erzählt, sagte Edith, sie wußte, daß ich es ihr ausgeredet hätte.
Wann erfuhren Sie, daß Ihre Freundin schwanger war, fragte Stein.
Gleich, ich hab ihr Mut gemacht, sagte Edith.
Wollte sie abtreiben? fragte Stein.
Nein, sagte Edith, sie war doch gläubig.
Weshalb mußten Sie ihr Mut machen, fragte Stein.
Damit sie um ihre Liebe kämpft, sagte Edith.
Kannten Sie den Mann? fragte Stein.
Natürlich, sagte Edith, ich habe ihr zugeredet, ihn zu heiraten.
Weshalb? fragte Stein.
Sie hatten sich lieb, sagte Edith, und nach einer kleinen Pause leise: Man soll immer seinem Herzen folgen, auch wenn einem dadurch Nachteile entstehen.
Dieses Gespräch fand Anfang September statt, dreizehn Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith. Ein dreiviertel Jahr später, im Juni, wenn Richter Pinthus die Todesstrafen gegen sie und
Sasse begründet, wird ihr das Gespräch mit Stein einfallen. Sie wird nach einem Fehler bei sich suchen und keinen finden. Dann wird ihr Blick zu dem Mann hinübergehen, der zusammengesunken auf der anderen Seite der Bank sitzt, halb ohnmächtig vor Angst und nicht imstande, die Schließmuskeln zu beherrschen. Richter Pinthus wird die Rede unterbrechen und verfügen, daß der Angeklagte von der weiteren Verhandlung auszuschließen sei. Sasse wird versuchen, sich zu erheben, aber die Beine machen nicht mit, und zwei Polizisten werden ihn mit dem einen Arm stützen, mit der freien Hand sich die Nase zuhalten vor dem Gestank, der von dem Angeklagten ausgeht. Edith aber wird der Rede von Richter Pinthus aufmerksam zu Ende lauschen.
Zehn Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith Schilder gab es in Traun die ersten Anzeichen von Unruhe. Zuerst wurde ein betrunkener Bauarbeiter aufgegriffen, der randalierte und schrie, daß man mit Mördern kurzen Prozeß machen müsse, Kopf kürzer, Rübe ab.
Dann kurvten am frühen Vormittag plötzlich junge Leute auf heulenden Motorrädern eine halbe Stunde durch die Stadt. Die Nummernschilder waren überklebt, die Gesichter verborgen hinter furchteinflößenden Schutzhelmen. Als Polizei kam, waren die Motorräder weg, und es fehlte von ihnen jede Spur. Nachmittags um zwei fiel im Plastewerk die elektrische Hauptleitung aus, und alle Bemühungen, den Schaden zu finden, waren ergebnislos. Punkt drei ging das Licht wieder an. Zufall vielleicht. Doch es war, als habe eine unsichtbare Hand der Stadt zeigen wollen, wie hilflos sie sei.
Am nächsten Morgen, neun Tage vor der Verhaftung von Sasse und Edith Schilder, war am Tor des Rathauses in tropfenden Buchstaben geschrieben: Den Mörder an den Galgen. Zu der Zeit dachte Stein immer noch, er habe den Fall in der Hand, aber da war er ihm längst entglitten.
Es war ein warmer, schlapper, tiefsonniger Tag im frühen Herbst, und drückende Stille lag über der Stadt, manchmal von plötzlichem Donner unterbrochen, wenn einer der unsichtbaren Düsenjäger die Schallmauer durchstieß. An Straßenecken standen Menschen in Gruppen, vor allem Männer, ernst und in leisen Gesprächen. Trat einer zu ihnen, den sie nicht kannten, verstummten sie.
Kinder radelten mit ernsten Gesichtern, den Blick geradeaus, so schnell sie konnten, von der Schule nach Haus. Es war, als suchten sie Schutz auf ihrem Weg quer durch die sie ängstigende Stadt. Arbeiter standen am Fabriktor, und es sah aus, als wüßten sie nicht, ob sie eintreten oder ob sie warten sollten. Vielleicht warten sie auf andere, dachte Stein, die in diesem Moment vielleicht Maschinen abstellen, sich mit Putzlappen die Finger abwischen und zu denen treten, die vor dem Tor stehen, wobei vielleicht ein Spruchband entfaltet wird. Stein, der am Fenster seines Büros stand und hinaus auf die Straße sah, schauderte es beim Gedanken daran.
Es geht was vor, sagte er.
Du täuschst dich, sagte Hetty, es ist nichts.
Wenn ich nur wüßte, was gespielt wird, sagte. Stein.
Und wenn es kein Unfall war? sagte Hetty.
Dann hat sie sich selbst umgebracht, sagte Stein, egal, was ihr Vater davon hält.
Er lud Edith Schilder vor und fragte:
Hat sie sich selbst umgebracht?
Nein, sagte Edith, es war ein Unfall.
Und wenn Sie sich täuschen? sagte Stein.
Ich täusche mich nicht, sagte Edith.
Vielleicht wurden Sie getäuscht.
Von wem?
Vielleicht hat Ihre Freundin gewollt, daß Sie einen Unfall sehen, in Wirklichkeit hatte sie das Leben satt, rief Stein, sie war religiös und wußte, welchen Kummer sie ihrem Vater bereiten würde, nähme sie sich das Leben, hielt aber selbst ihr weiteres Leben für unerträglich.
Nein, sagte Edith, das Leben war ihr heilig, sie liebte den Mann, von dem sie ein Kind erwartete, und der liebte sie.
Wenn sie sich nicht selbst umgebracht hat, sagte Stein, indem er sich aufrichtete, wobei das Koppelzeug knarrte, dann war es Mord.
Sie täuschen sich, Herr Stein, sagte Edith, ohne zu zögern, es war ein Unfall.
Drei Tage später und sechs Tage, bevor Sasse und Edith Schilder verhaftet wurden, war Liesbeth Koslowskis Tod nicht mehr die Sache von Stein, sondern die der ganzen Stadt. Zuerst, zufällig in Arbeiterversammlungen, kamen Anfragen zum Mordfall Koslowski, wie es in der Stadt schon hieß, mit Direktor Sasse als dem Täter, der, ist es nicht so? von der Polizei geschützt werde..
Zaghafte Anfragen zuerst, die bald lauter wurden, dann aber aufhörten, als nämlich die Obrigkeit energisch wurde und die vorsichtigste Frage eine Provokation nannte, den Fragenden dummdreist und die Unruhe in der Stadt konterrevolutionär. Edith Schilder, als überzeugende Rednerin stadtbekannt, war Gast im Wasserwerk. Sie sprach eindringlich und ohne Hast, und als sie vom Podium stieg, bekam sie Beifall. ,
Sie sollten der Polizei vertrauen, hatte sie gerufen, auch die könne .sich irren, doch am Ende werde die Wahrheit herauskommen, und die Wahrheit sei, daß sie es hier zweifelsfrei mit einem Unfall zu tun hätten und nicht mit Mord, wie verantwortungslose Leute behaupteten. Hinterher zog Parteisekretär Orzmann sie in sein Büro und gratulierte ihr zu der meisterlichen Überzeugungskraft ihrer Rede, worauf sie bescheiden abwinkte.
Als Stein von ihrer Rede vor den Leuten im Wasserwerk hörte, sagte er:
Warum verteidigt sie Sasse?
Immer noch nicht kam ihm in den Sinn, sie zu verdächtigen.
Beim letzten Verhör hatte Edith gespürt, daß Stein im Dunkeln tappte, denn er glaubte nicht an einen Unfall, an Selbstmord aber auch nicht mehr, und sie war überzeugt, daß er keine Chance hatte, jemals etwas von der Wahrheit zu erfahren. Sie hatte alles aufeinander abgestimmt, Zeitpunkt der Tat, Ort und Umstände.
Immer wieder überprüfte sie, wie alles abgelaufen war, und nirgendwo fand sie eine Lücke, in die Stein hätte einhaken können. Die Unruhe in der Stadt aber drohte nun alles zunichte zu machen. Die Unzufriedenen und Aufsässigen, die sich aus, Furcht vor Strafe lange nichts getraut hatten, besannen sich plötzlich und machten ihrer Verbitterung Luft, auch die Schadenfrohen, die Benachteiligten und die zu spät und zu kurz Gekommenen. Sie waren zu schwach, um sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, sahen in Sasse nun ihr Opfer, das sie forderten, ohne Nachteile für sich befürchten zu müssen. Sie wollten Genugtuung, und Edith erschrak vor der Gefahr, die sie nicht hatte kommen sehen.
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