Wieder wurde fröhlich gelacht und grosszügig in die Büchse mit frischem Weihnachtsgebäck gegriffen.
Tobias war wirklich im Zwinglisaal. Als er eintrat schlug die Kirchenuhr der düsteren Kirche neben dem Saal zwei Uhr. Er stellte missbilligend fest, dass der Zwingli wieder einmal nicht beleuchtet war. Nach seiner Ansicht sollte das Licht hinter dem Glasbild immer leuchten. So ähnlich wie das ewige Licht in einer katholischen Kirche, hatte er Rebecca vorgeschwärmt. Sein erster Gang führte ihn deshalb zum Schalter der Bildbeleuchtung, erst dann programmierte er das Raumlicht. Zwingli hellte auf, erlosch aber, nur um gleich wieder aufzuleuchten. Tobias schüttelte verärgert den Kopf: Scheint nicht ganz ausgereift, die Installation von Evis Jungem. Doch was war das? Aus dem Bild quoll Rauch. Ein Kurzschluss? Das würde gerade noch fehlen. Ein Brand! Der Zwinglisaal war vorschriftgemäss mit modernster Feuermeldetechnik ausgestattet. Sobald die Rauchmelder ansprachen, ging der Alarm an die Feuerwehr. Doch es kam nicht soweit. Der Rauch war eher ein Nebel, eine lichte rötlich wallende Wolke. Aus dem Nichts erschien Huldrych in Lebensgrösse. Tobias blinzelte. Seine Hornhautverkrümmung machte ihm in letzter Zeit zu schaffen. Oft sah er Dinge verschwommen, musste mehrmals die Augen zusammenkneifen um überhaupt ein klares Bild zu erhalten. Doch das Augenlicht spielte ihm hier keinen Streich. Die gleiche Szene wie bei der Weihnachtsfeier. Evi hatte Recht gehabt. Zwingli lebt!
»Wer bist du?«
Zwinglis sonore Stimme füllte den Raum. Modergeruch begleitete die Erscheinung. Total imposant, völlig schräg und absolut unmöglich:
Nein das gab, gibt und wird es auch nie geben. Gespenstershow im Zwinglisaal.
Tobias schluckte leer. Die Erzählung von Evi über das Erscheinen von Zwingli in der Elektrowerkstätte bei der katholischen Kirche ging durch seinen Kopf.
Verstand ausschalten. Es bleibt nur eine Option!
Die hatte Tobias einmal in einem Seminar zum Verhalten in Hochstresssituationen gelernt.
Ruhig bleiben, wenn immer möglich das Gespräch mit dem Gegner suchen, ihn scharf beobachten und sich nach Fluchtwegen umsehen.
Genau so verhielt sich Tobias Fink. Ein gestandener Mann im besten Alter, das heisst im Ruhestand, Freizeitbürgerratspräsident eben dieses Dorfes. Er machte einen kurzen Schritt gegen die Saaltüre, den Nebelgeist immer im Auge behaltend:
»Mein Name ist Tobias Fink, ich bin der Bürgerpräsident dieses stattlichen Dorfes und sehr erschrocken über dein Erscheinen! Was führt dich zu uns, Zwingli?«
Durch Fragen kann man führen, hatte er ebenfalls in einem Kurs gelernt. Zwingli schwebte zwischen ihn und die Türe, ganz so, als ob er die Absicht von Tobias vorausgesehen hätte.
»Ja, ich bin Ulrich Zwingli geboren am ersten Tage des Jahres 1484 in Wildhaus im Toggenburg, Sohn des dortigen Gemeindepräsidenten. Ich bin auf den Namen Ulrich getauft, nenne mich aber Huldrych, bitte sprich mich mit diesem Namen an. Ich kam als Leutepriester an das Grossmünster in Zürich und bin der Pfarrer der reformierten Kirche dieser Stadt. Noch immer weiss ich nicht wo ich heute bin. Kannst du mir helfen?«
Tobias hatte sich nach dem mysteriösen Auftritt von Zwingli an der Weihnachtsfeier für Einsame über den schweizerischen Reformator informiert und konnte der im Zwinglisaal wallenden Gestalt erzählen, dass er vor bald einmal fünfhundert Jahren in der Schlacht von Kappel, von den zentralschweizerischen Kriegern erschlagen wurde. Dies geschah am 11. Oktober 1531. Nach der Legende sei der Zürcher Reformator nach seinem gewaltsamen Tode gevierteilt und anschliessend verbrannt worden. Die Asche sei wohl auf den Feldern verstreut worden.
Doch die Lehre von Zwingli wurde zusammen mit der Lehre der Genfer Reformation zur Grundlage der schweizerischen reformierten Kirche. Ja, ein ehemaliger Bundesrat ging im Jahre 2013 sogar soweit, Zwingli als den bedeutendsten Schweizer für immer zu bezeichnen. So gesehen, erklärte Tobias der ruhig zuhörenden Gestalt, sei er, Huldrych Zwingli, der Urvater der Reformation in der Schweiz. Huldrych wollte wissen in welcher Kirche er sich denn überhaupt befinde. Auch hier konnte Tobias Auskunft geben. Er erzählte der Erscheinung die Geschichte der klobigen Kirche, die sie durch das Fenster sehen konnten, der Kirchgemeinde des Dorfes, das sich durchaus Stadt nennen könnte. Er schilderte dem Geist aus dem Glasbild die heutige Zeit, erklärte ihm die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte. Dies allerdings im Überschalltempo. Zwingli hörte aufmerksam zu, unterbrach den Ortsbürgerpräsidenten nur selten, doch immer mit gezielten und klaren Fragen. Tobias war beeindruckt von der schnellen Auffassungsgabe seines Zuhörers. Vom hohen Turme schlug es vier Uhr als Tobias erschöpft schloss:
»Wie du hierher gekommen bist, kann ich nicht sagen. Ich habe zwar schon davon gehört, dass sich Tote aus den Gräbern erheben und zurückkommen. Untote nennt man diese Gestalten. Aber nie hätte ich geglaubt, so etwas je selbst zu erleben. Doch nun erfahre ich dieses Wunder selbst. Was du hier bist, das nennen wir Geist. Ich habe keine Ahnung was das bedeutet und wie es mit dir weitergehen soll.«
Plötzlich war Stille im Saal. Zwingli wogte lautlos von einer Wand zur anderen, blickte immer wieder aus dem Fenster zur nebenan liegenden Kirche.
»Was ich bis jetzt herausgefunden habe kann ich dir schildern. Ich bin in diesem Bild hier, in diesem Holzrahmen, gefangen. Aus dem Raume kann ich nicht. Ich leide weder an Durst noch an Hunger. Doch ich höre und sehe alles, was in diesem Raum geschieht. Allerdings nur, wenn das Licht hier brennt!«
Dabei deutete Ulrich auf das strahlende Glasbild.
»Was rätst du mir? Ich habe bemerkt, dass immer wenn ich dieses Bild verlasse, die Menschen mich anstarren als ob sie Angst vor mir hätten. Ich tue niemandem etwas. Das kann ich ja gar nicht!«
Zum Beweis glitt die Gestalt auf Tobias zu. Dieser zuckte nicht einmal zusammen. Er verspürte keine Furcht und war auch keineswegs überrascht als Huldrych einfach durch ihn durch drang. Einen kurzen Augenblick erfüllte ihn eine nicht unangenehme prickelnde Wärme. Dann war wieder alles wie gewohnt.
»Tatsächlich, ich glaube dir!«
Nochmals fragte die Erscheinung des Reformators aus Zürich:
»Rate mir, wie soll ich mich verhalten?«
Tobias brauchte nicht lange zum Überlegen:
»Ich denke es ist das Beste für alle, auch für dich, wenn du im Holzrahmen des Bildes bleibst. Die Menschen erschrecken tatsächlich, wenn du im Raume umherschwebst. Doch wenn sie einmal ihre Furcht verloren haben, findest du und diese Kirche keine Ruhe mehr. Nicht wegen Huldrych Zwingli, sondern wegen der Sensation, einen wahrhaftigen Geist zu sehen. Sie würden aus dir ein Gespenst machen, dich vielleicht wieder verhöhnen wie anno dazumal bei der Schlacht von Kappel. Du würdest immer wieder einen neuen Tod sterben. Davor möchte ich dich bewahren. Bleibe hier als mein Freund und erscheine nur, wenn wir beide alleine in diesem Raume sind. Was meinst du zu meinem Vorschlag?«
Huldrych unterbrach sein ruheloses umherschweben, kam ganz nahe zu Tobias. Der Modergeruch wurde penetrant, wie in einer feuchten Grabesgruft roch es im neuen Zwinglisaal. Zwingli nickte so heftig mit dem Kopfe, dass sich die Konturen seiner Dächlikappe fast aufzulösen schienen:
»Dein Vorschlag behagt mir gut. Ich kehre zurück in mein Bild und werde über alles nachdenken. Du bist mein Freund. Gib mir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist und ich aus dem Rahmen kommen kann.«
Mit diesen Worten verschwanden die wallende Gestalt, der Geruch und der rote Nebel. Tobias war wieder allein. Ohne eine Sekunde an der Präsentation für seine Frau gearbeitet zu haben, verliess er den Saal. Jedoch nicht ohne vorher die Beleuchtung des Glasbildes ausgeschaltet zu haben. Sicher ist sicher! murmelte er in seinen Schal, den er gegen die Kälte der letzten Dezembertage um seinen Hals geschlungen hatte.
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