GLASTRAUM
Hannes R. Specht
Copyright: © 2014 Hannes R. Specht
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-8442-9813-0
Umschlag:
Glasbild im Kirchgemeindezentrum Flawil
Für meinen Bruder MAX
1. August 2014
Zweite überarbeitete Auflage
Ich danke Rebecca,
Ruth und Gust für ihre wertvolle und
geschätzte Teilnahme in diesem Buch.
Flawil, im Juli 2014
Hannes R. Specht
HANNES R. SPECHT
Eine Vision
In einem grossen Dorf das sich seit Jahren erfolgreich sträubte zur Stadt zu werden, ereignete sich eine bemerkenswerte Geschichte.
Vor sicherlich zweihundert oder mehr Jahren wurde beim östlichen Dorfeingang eine stattliche Villa mit Gesindehaus, einer Remise mit stilgerechten Stallungen und einem grosszügigen Park samt Springbrunnen erbaut. Die reichen Bürger des damals noch kleinen Dorfes waren Textilfabrikanten, Kaufleute, Fuhrhalter oder Söldner in fremden Kriegsdiensten. Das Gebäude von dem hier die Rede ist, liess sich der Besitzer einer grossen Weberei errichten. Es war in der Tat ein herrschaftliches Ensemble. Das Kellergeschoss der Villa war grosszügig und eine veritable Stickmaschine hätte durchaus Platz darin gefunden. Doch der Bauherr dachte beim Keller in erster Linie an einen geeigneten Aufbewahrungsort für seine exquisiten Weine aus den eigenen Rebbergen im Waadtland. Im Hochparterre bauten die Zimmerleute eine in dunklem Holz getäferte Stube, die nach dem Textilfabrikanten benannt wurde. Dazu kam ein kleiner Saal samt grosser Küche. Das erste Stockwerk umfasste die Stube, Wirtschafts- und Nebenräume. Die dritte Etage nahm die Schlafräume und das Badezimmer auf. Zuoberst im grossen Estrich unter dem ausladenden Dach hausten in zwei engen Zimmerchen die Bediensteten. Im Rest des Dachbodens lagerten die Dinge, für die niemand Verwendung hatte. Bei der Grundsteinlegung wurden feierlich zwei Linden gepflanzt. Den handverlesenen Gästen erklärte der Fabrikant mit einem Glas seines erlesenen Weissweins in der Hand:
»Ich taufe unser neues Heim auf den Namen Gut zu den zwei Linden Prost!«
Die Textilindustrie in dem grossen Dorfe das sich heute durchaus Stadt nennen könnte, blühte und schwelgte in ihrem Reichtum. Das war in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Eine Krise in der Textilindustrie oder gar deren Niedergang war unvorstellbar. Allein der Gedanke daran war so absurd, dass niemand auch nur schon auf die Idee kam darüber zu sinnieren. Die Besitzerfamilie war reich, wirklich reich und wohltätig. So überliess sie der reformierten Kirchgemeinde des kleinen Dorfes kostenlos ein riesiges, flaches Grundstück, direkt in südlicher Richtung vor der besagten Liegenschaft zu den zwei Linden. Eine Kirche samt Park sollte darauf gebaut werden. Das war die einzige Bedingung. Eine grosse Kirche und ein grosser Park. Rund achtzig Prozent der Bewohner des Dorfes waren zu jenem Zeitpunkt evangelisch. Alle Familienoberhäupter der reformierten Kirchgemeinde, etwas mehr als tausend Männer, müssen darin Platz finden und ein hoher, massiger Glockenturm das Dorf überragen. Eine präsentable Allee rund um die Kirche soll zur besinnlichen Einkehr einladen und die Kirche umschliessen. So lauteten die Bedingungen der Wohltäterfamilie.
Der Wille geschah, so wie es sich der weit gereiste und weltgewandte Fabrikant vorgestellt hatte. Die Einweihungsfeier war ein unvergessliches Fest. Die grosse Kirche platze fast aus den Nähten, alle wollten dabei sein. Sogar die Stehplätze wurden nummeriert und tatsächlich erlebten mehr als eintausendzweihundert Männer und Frauen die über zweistündige Einweihungsfeier. Ewige Meckerer behaupteten zwar, es seien genau zwölfhundertdreizehn gewesen, doch wegen der Unglückszahl spreche man lieber von über zwölfhundert. Zu erwähnen ist zudem auch der mysteriöse Seilriss beim Aufziehen der grossen Glocke. Sie fiel zwar nur einen knappen halben Meter tief auf den weichen Grasboden und niemand, auch nicht die Glocke, kam zu Schaden. Doch ein Seilriss beim Glockenaufzug? Wenn das nur kein Unglück bringt. Vielleicht sollten die Stänkerer ja Recht behalten. Jedenfalls ist es historisch erwiesen, dass die Kirche nie mehr so viele Menschen in ihrem düstern Innern sah, wie zur Einweihungsfeier. Nach hundert Jahren lässt sich sogar sagen, dass seit jenem Tage, kurz nach dem Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, die reformierte Gemeinde in diesem Dorf stagnierte. Die Einwohnerzahl im Dorf wuchs zwar stetig, aber es waren vor allem katholische Glaubensbrüder und Schwestern die sich hier niederliessen. Aber im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts stoppte auch das Wachstum der katholischen Kirchgemeinde. Einerseits zogen die freien Kirchen und Sekten immer mehr Menschen an und anderseits nahmen viele muslimische Gläubige in der Gemeinde Wohnsitz. Die katholische und die reformierte Landeskirche mussten hingegen jedes Jahr Austritte registrieren. Die Anzahl der religionslosen Menschen wuchs somit stetig. Durch den Rückgang der Steuereinnahmen gerieten dafür die Finanzen der beiden Kirchgemeinden mehr und mehr in Schieflage.
So erschien es dem reformierten Kirchenrat einige Jahre nach dem Wechsel ins 21. Jahrhundert wie eine wundersame Fügung, dass die politische Gemeinde Land für einen Gemeindesaal suchte. Sie fand die Liegenschaft direkt hinter der riesigen Kirche nämlich als perfekt passend für ihren Zweck. Die Vorsteherschaft nutzte die Gunst der Stunde und gab den Boden im Baurecht an die Gemeinde ab. Der Baurechtszins spült nun für neunundneunzig Jahre stetig Geld in die Kasse der Kirchgemeinde. So konnte sich auch diese an Investitionen wagen und baute zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde ein Kirchenzentrum mit Büroräumen, Schul- und Sitzungszimmern samt einem Mehrzwecksaal. Bis dato war die Verwaltung in einem gewaltigen historischen Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert mit dem Namen Zur Buche untergebracht. Dieses Haus wurde zu einer modernen Kindertagestätte umgebaut. Die KITA wird seither von der reformierten Kirchgemeinde betrieben, steht aber für alle Kinder, egal welcher Konfession sie angehören, offen. Dank Beiträgen der katholischen Kirchgemeinde, der politischen Gemeinde und des Kantons wirft der Hort einen bescheidenen Gewinn ab und entlastet so die arg gebeutelte Kasse der Reformierten.
Mit der Einweihung des Kirchgemeindezentrums könnte die Geschichte hier nun glücklich enden. Für alle Beteiligten war somit jene grosszügige Landschenkung vor über hundert Jahren der Ausgangspunkt zur allgemeinen Zufriedenheit.
Doch genau mit der Einweihung des reformierten Gemeindezentrums, die zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde gefeiert werden sollte, nimmt die Geschichte ihren Anfang. War der Name für den grossen Gemeindesaal nämlich schnell gefunden, er sollte als Glattsaal (nach dem Fluss der durch die Gemeinde fliesst) in die Geschichte eingehen, taten sich die Verantwortlichen der reformierten Kirchgemeinde schwer, den richtigen Namen für ihren kleineren Mehrzweckraum, der angrenzend an den Glattsaal gebaut wurde, zu finden.
Schleichen wir uns doch in die Zusammenkunft des erweiterten reformierten Kirchenrates im grossen Sitzungszimmer des Hauses Zur Buche.
Dreissig Frauen und Männer zwängten sich im ehrwürdigen Raume zusammen. Der jüngste Teilnehmer keine zwanzig und die Älteste mit ihren achtundsiebzig Jahren noch immer die aktive Leiterin der Altersgemeinschaft 60 - na und? Trotz der drei schräg gestellten Fenster war die Luft zum schneiden dick.
Franz, Kirchenratpräsident und Sitzungsleiter, versuchte dennoch frischen Sauerstoff zu schnappen und holte aus:
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