Um den Kopf freizubekommen, hatte Manuel zwei Semester ausgesetzt und die Welt bereist. Kalifornien, Chile, Australien, Thailand, Südafrika – alles mit dem Rucksack und mit wenig Geld. Danach wusste er, dass er es mit Jura probieren wollte. Die Details mochten trocken sein, aber es faszinierte ihn, das deutsche Rechtssystem zu studieren und mit den moralischen Prinzipien abzugleichen, auf denen es fußte. Inzwischen hatte er endlich das Gefühl, das Richtige gefunden zu haben.
»Und, gefällt es Dir da?«, fragte Katharina.
»Ja, doch. Mainz ist ein schönes Städtchen, und die Uni ist klasse«, sagte Manuel. »Aber jetzt bleibe ich erst mal eine Weile in Düsseldorf. Sind ja viele Formalitäten und Bürokram zu erledigen.«
Katharina nickte verständnisvoll. »Das kann ich mir vorstellen.«
Als wieder eine Pause entstand, sagte Manuel: »So, ich wollte sowieso gerade gehen. War schön, Dich wieder zu treffen.«
»Fand ich auch«, antwortete Katharina und ergriff die ausgestreckte Hand. »Mach‘s gut.«
»Ich bring Dich noch zur Tür.« Gaby stand ebenfalls auf und begleitete Manuel durch den Flur. »Ich ruf Dich an. Wie besprochen«, sagte sie zum Abschied und nahm ihn in den Arm. Manuel nickte schweigend. Er brachte kein Wort hervor. Nach der schönen Ablenkung namens Katharina fiel ihm wieder ein, was er von Gaby erfahren hatte.
Manuel war eine dreiviertel Stunde zuvor eingetroffen und hatte seinen Micra an der Straße geparkt, direkt vor dem Grundstück der Köhlers. Unwillkürlich musste er daran denken, wie unterschiedlich sich seine Mutter und Gaby entwickelt hatten – und wie erstaunlich es war, dass sie trotzdem beste Freundinnen geblieben waren. Aus Gaby, die sich früher bei den Grünen engagiert und zahllose Friedens- und Anti-Atomkraft-Demos besucht hatte, war eine klassische Familienmutter geworden. Sie führte ein Leben, das sie früher zweifellos als spießig bezeichnet hätte: Verheiratet, Haus mit Garten, Tennis am Wochenende. Himmel, sie fuhr sogar Mercedes. Allerdings weigerte sie sich beharrlich, in den Golfclub einzutreten, obwohl ihr Mann Richard begeisterter Golfer war.
Manuel fragte sich, ob seine Mutter ebenfalls ein solches Leben geführt hätte, wenn sie den richtigen Mann dafür getroffen hätte. Sicher, auch sie war in den letzten zehn Jahren immer seltener zu Demos gegangen. Aber sie hatte doch ein Leben gelebt, das ziemlich weit vom bürgerlichen Ideal entfernt blieb: Wechselnde Partnerschaften statt stabile Ehe, Stadtwohnung statt Haus mit Garten, Frauenabende statt Tennisclub. Hätte es auch ganz anders kommen können?
Als Manuel den schmalen gepflasterten Weg entlang ging, der durch den gepflegten Vorgarten der Köhlers führte, schlug sein Herz schneller. Würde er gleich erfahren, wer sein Vater ist? Manuel glaubte es nicht, aber er neigte sowieso zu Zweckpessimismus. Lieber die Hoffnungen runterschrauben und nicht enttäuscht werden.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Gaby die Tür öffnete. »Manuel, schön dass Du da bist!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm ihn in den Arm. »Hi, Gaby«, sagte er. Er spürte, wie seine Anspannung wuchs.
»Ich bin immer noch ganz durcheinander«, sagte sie. »Konnte mich heute kaum auf die Arbeit konzentrieren. Aber irgendwie muss man sich ja ablenken. Komm rein, wir gehen ins Wohnzimmer.«
Nachdem sie ihm ein Glas Wasser geholt und sich neben ihn aufs Sofa gesetzt hatte, atmete Manuel tief durch. Er beschloss, direkt zur Sache zu kommen.
»Gaby, kurz bevor Mama gestorben ist, hat sie mir noch etwas gesagt. Etwas sehr Wichtiges.« Manuel stockte. Die Erinnerung an die Momente am Sterbebett kehrte mit voller Wucht zurück, und plötzlich war er wieder da, der Kloß in seinem Hals. Er schluckte und zwang sich, mit fester Stimme weiterzureden: »Sie hat gesagt, dass mein Vater gar kein anonymer Samenspender war.«
Manuel sah, wie Gabys Miene erstarrte. Er ließ ihr keine Zeit, nachzudenken. »Wusstest Du das?«, fragte er.
Gaby sah zum Fenster raus. Manuels Strategie war aufgegangen: Er hatte sie überrumpelt. Sie zögerte einige Sekunden, antwortete dann aber mit leiser Stimme: »Ja, sie hat es mir erzählt.«
Manuels Herz schlug schneller. »Weißt Du«, fuhr Gaby fort, »es war ihr einfach ungeheuer peinlich. Deshalb hat sie sich das mit dem Samenspender überlegt.«
»Was war ihr peinlich?«
Gaby öffnete den Mund – und zögerte. Sie blickte Manuel wachsam an.
»Was genau hat Anna Dir gesagt?«
Manuel erzählte es ihr. Wort für Wort. Als er die den letzten Satz wiederholte – den, den seine Mutter nicht mehr zu Ende gebracht hatte – sah Gaby überrascht auf. »‚Er lebt hier in der Nähe‘. Hat sie wirklich ‚in der Nähe‘ gesagt?«
»Ja, hundertprozentig. Ich weiß aber nicht, ob ihr überhaupt klar war, dass sie in Essen im Krankenhaus lag. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie Düsseldorf meinte.«
Gaby runzelte die Stirn und schwieg. Manuel zwang sich, sie vorerst nicht zu drängen. Er fürchtete, dass Gaby dicht machen würde, wenn er jetzt zu sehr insistierte.
Nach einigen endlos scheinenden Sekunden redete sie weiter. »Weißt Du, Manuel, ich weiß nicht, was genau Anna Dir sagen wollte. Und sie hat mir damals das Versprechen abgenommen, niemanden etwas zu erzählen. Niemals. Und...«
»Sie wollte mir die Wahrheit sagen, Gaby«, fuhr Manuel dazwischen. »Die volle Wahrheit. Warum sonst sollte sie einen Aufstand machen, um gegen den Willen der Ärzte mit mir zu reden? Um mir eine weitere Lüge aufzutischen?« Manuel merkte, dass er sich in Rage redete. »Das glaube ich einfach nicht. Auch wenn sie mich mein Leben lang angelogen hat...« Manuel stockte. Seine Stimme war bei den letzten Worten brüchig geworden.
Gaby sah jetzt geschockt aus - ganz so, als sei ihr die gesamte Tragweite des Themas gerade erst bewusst geworden. Sie begann, ihre beste Freundin zu verteidigen.
»Du musst Deine Mutter verstehen, Manuel. Sie war überzeugt, dass es so besser ist. Und es war ihr einfach ungeheuer peinlich, diese Sache im Westerwald...« Gaby verstummte und fixierte jetzt einen Punkt links von Manuel. Sie schien mit sich zu ringen.
»Gaby, glaubst Du nicht, dass ich ein Recht darauf habe, es zu erfahren?« Manuel hatte jetzt Mühe, nicht laut zu werden.
Doch Gaby schwieg. Sie sah unschlüssig aus. Manuel konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln, beherrschte sich aber irgendwie.
Kurz darauf fuhr Gaby endlich fort. »Ja, Du hast Recht«, sagte sie und holte tief Luft. »Also: Mir hat sie damals erzählt, es sei in den Semesterferien passiert, in Hackenberg.«
Hackenberg war der Ort im Westerwald, in dem seine Mutter aufgewachsen war. Eine idyllisch gelegene Kleinstadt, in der Manuel als Kind manches Wochenende verbracht hatte. »Sie war damals auf der Kirmes und hatte jede Menge Alkohol getrunken. Und dann ist es passiert...«
»Mit jemandem aus Hackenberg?«, fragte Manuel, als Gaby nicht weitersprach. Er wagte kaum, zu atmen.
»Wahrscheinlich. Aber sie konnte sich hinterher an nichts erinnern. Sie ist auf einer Wiese neben dem Kirmesplatz zu sich gekommen und hat dann zugesehen, dass sie nachhause kam. Ein paar Wochen später war klar, dass sie schwanger ist.«
Enttäuschung kroch in Manuel empor. »Und sie hat nichts unternommen, um meinen Vater zu finden?«, fragte er entgeistert.
»Nein. Die Sache war ihr äußerst peinlich, und du weißt ja, wie auf dem Land getratscht wird. Das Ganze hätte sich mit Sicherheit rumgesprochen. Und das wollte sie um alles in der Welt verhindern. Vor allem wegen ihres Vaters.«
»Aber wenn sie ihn tatsächlich nicht kannte, hätte sie mir im Krankenhaus doch gar nicht mitteilen können, wer es ist«, sagte Manuel. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
Gaby sah ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das ist alles, was ich weiß, ehrlich. Vielleicht wollte sie Dir mitteilen, dass er höchstwahrscheinlich in Hackenberg lebt. Damit Du selber nach ihm suchen kannst. Sonst fällt mir jedenfalls kein Grund ein...«
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