Das kommt davon, wenn man ein Einzelbüro ablehnt und sich stattdessen fürs Großraumbüro entscheidet, schimpfte sie im Stillen mit sich. Wo sie auch noch mit dem Rücken zur Tür saß, sodass jeder, der reinkam, auf ihren Bildschirm gucken konnte. Aber heute war Samstag, und deshalb hatte Elisabeth nicht erwartet, dass jemand kam. Ihre Ermittler hatten frei – bis auf die beiden, die zur Observation Hosseinis eingeteilt waren. Und Böhmer hatte Bereitschaft, sollte also in Notfällen erreichbar sein, um Verstärkung zu schicken oder wichtige Entscheidungen zu fällen. Aber normalerweise blieb er dabei zuhause, wogegen auch nichts einzuwenden war.
»Ja, kann man so sagen«, antwortete ihr Stellvertreter, der jetzt vor ihrem Schreibtisch stand und die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt hatte. Böhmer war nur wenige Zentimeter größer als Elisabeth, aber wegen seiner breiten Schultern trotzdem eine stattliche Erscheinung. Er trug ein T-Shirt mit ziemlich kurzen Ärmeln, unter denen sein beachtlicher Bizeps hervorragte. Elisabeth fragte sich, warum er sich so prollig kleidete. Hatte er doch wirklich nicht nötig.
»Hosseini ist nach Düsseldorf gefahren und hat sich in einer Bar am Medienhafen mit jemandem getroffen«, fuhr Böhmer fort. Der Medienhafen war ein Szene-Viertel am Rhein mit zahlreichen Restaurants, Clubs und Kneipen. »Ein Mann um die Vierzig, haben die Kollegen erzählt. Sah wohl so aus, als hätten die sich gestritten.«
Elisabeth blickte ihren Stellvertreter fragend an und wagte kaum zu atmen.
Nach einer kurzen Pause fuhr Böhmer grinsend fort: »Ja, einer der Kollegen ist dem Mann gefolgt und hat sein Autokennzeichen notiert.«
»Sehr gut.« Elisabeth schaffte es nicht, ihre Erleichterung zu verbergen. Ihr fiel es immer noch schwer, ihren Leuten zu vertrauen. Aber so unzugänglich die Ermittler menschlich sein mochten, so beschlagen waren sie als Observateure. Das galt selbst für Wilke, dieses Arschloch.
»Die Jungs verstehen was von ihrem Job«, sagte Böhmer mit leicht tadelnder Stimme. Sein Grinsen war verschwunden.
»Ja, ich weiß«, sagte Elisabeth und seufzte. »Ich hatte nur befürchtet, dass... Naja, egal. Auf jeden Fall hervorragende Arbeit. Haben wir das Kennzeichen schon gecheckt?«
»Nein, gestern war es schon spät. Wollte ich gleich Montagmorgen machen«, antwortete Böhmer, jetzt wieder im üblichen neutralen Tonfall.
Elisabeth war drauf und dran, die Verzögerung zu kritisieren, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. Montag reichte ja tatsächlich.
»Okay«, sagte sie. »Da bin ich mal sehr gespannt, wer unser Unbekannter ist.«
»Ich auch. Die Kollegen haben natürlich Fotos gemacht. Die müssten eigentlich schon in meinen Mails sein. Soll ich die Ihnen schnell weiterleiten?«
»Ja, das wäre prima.«
Böhmer nickte. »Alles klar, sind gleich da.«
Elisabeth sah ihm hinterher, als er auf seinen Schreibtisch in der anderen Ecke des 60 Quadratmeter großen Büroraums zusteuerte. Sollte das etwa schon der nächste Durchbruch sein? Dass es so schnell ging, hätte sie nach den zähen letzten Wochen nicht zu hoffen gewagt. Langsam, langsam, mahnte sie sich. Gut möglich, dass das Treffen überhaupt nichts zu bedeuten hatte und dass sich Hosseinis Gesprächspartner als harmloser Bekannter entpuppte. Sie blickte vorsichtig zu Böhmer herüber, der inzwischen an seinem Computer saß. Eilig loggte sie sich wieder bei parship.de ein, um die Nachricht, die sie von Lino_Ventura erhalten hatte, erneut zu lesen.
»So, ich hab‘s weitergeleitet«, rief Böhmer kurz darauf zu ihr herüber.
»Danke.« Elisabeth meldete sich beim Single-Portal ab und öffnete ihr Email-Programm. Die Antwort an Lino_Ventura würde sie in Ruhe zuhause schreiben.
Ganz oben fand sie Böhmers Mail mit vier angehängten Fotos, die alle dasselbe Motiv zeigten: Zwei Männer an einem Ecktisch in einer italienischen Espresso-Bar, offenbar von der Straße aus durchs Fenster fotografiert. Sie kannte die Bar, allerdings nur vom Vorbeigehen. Ein paar Meter weiter gab es ein hervorragendes Fisch-Restaurant, in dem sie schon oft mit ihren Eltern gegessen hatte. Ein paar Mal war auch Daniel dabei gewesen, wenn sie gemeinsam im Rheinland waren. Allerdings hatte er sich um Besuche bei ihren Eltern meist erfolgreich gedrückt.
Einer der Männer auf den Fotos war unverkennbar der Teilzeit-Pizzalieferant Hosseini – die zurückgegelten schwarzen Haare, die Hornbrille und der kurzgeschorene Kinnbart ließen keinen Zweifel. Beim Anblick des zweiten Mannes stockte Elisabeth kurz der Atem. Unverkennbar auch ein Südländer. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt, allerdings auf dezentere Weise als der geschniegelte Hosseini. Eleganter hellgrauer Anzug, weißes Hemd und kurze schwarze Haare. Gepflegte Koteletten, ansonsten glattrasiert. Um die 40, das kam hin. Der Typ Mann, den viele Frauen attraktiv fanden. Auch Elisabeth musste sich eingestehen, dass er anziehend wirkte. Neben ihm auf dem Tisch lag eine teure Sonnenbrille und eine Packung Menthol-Zigaretten.
Der Mann strahlte Autorität aus, aber auf die gelassene Art. Er hatte seine Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt und die Hände gefaltet, während er redete. Hosseini saß ihm gegenüber, leicht zurückgelehnt und mit vor der Brust verschränkten Armen. Er starrte auf den Boden und wirkte dadurch wie ein Lehrling, dem gerade vom Chef der Kopf gewaschen wird. Vermutlich eine ungewohnte Pose für Hosseini, der vor Eitelkeit und Selbstbewusstsein nur so strotzte. Diesen Eindruck hatten jedenfalls ihre Ermittler gewonnen, während sie ihn observierten.
Bist Du der, den wir suchen?, fragte Elisabeth stumm, während sie den Mann eingehend taxierte.
Für ihren Verdacht sprach zunächst, dass er Südländer war - und damit möglicherweise Afghane, wie Hosseini. Mehr als 90 Prozent des weltweit produzierten Opiums – der Rohstoff für Heroin – stammten von afghanischen Schlafmohnfeldern. Besonders in den südwestlichen Provinzen Kandahar und Hilmand züchteten Bauern und Plantagenbesitzer große Mengen. Daran hatte auch die Besatzung des Landes durch internationale Schutztruppen nichts geändert: In weiten Teilen Afghanistans existierten noch immer keine staatlichen Strukturen; die Mohn-Bauern konnten dort unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen. Das führte dazu, dass unverändert große Mengen Heroin den Weltmarkt überschwemmten. Und die Süchtigen kauften, was sie konnten, vor allem in Westeuropa und den USA. Der Stoff erlebte derzeit eine Renaissance; anders als noch vor wenigen Jahren deutete nichts mehr darauf hin, dass Designerdrogen das gute alte Heroin von der Spitze verdrängen würden. Für staatliche Anti-Drogen-Kämpfer, Suchttherapeuten und Streetworker im Milieu blieb Heroin weiterhin das mit Abstand größte Problem.
Jahr für Jahr rutschten allein in Deutschland Tausende junge Menschen in die Heroinsucht ab, was fast immer bedeutete, dass sie ihre bürgerliche Existenz aufgeben mussten. Sie brachen die Ausbildung ab, verließen das Elternhaus und schlugen sich als Kleinkriminelle oder Prostituierte durch ein trostloses Leben. Nur wenige schafften den Ausstieg und überlebten; die meisten setzten sich irgendwann den tödlichen Schuss, erkrankten an AIDS oder bereitetem ihrem Dasein auf andere Weise ein trauriges Ende.
Wenn sie die neuesten Statistiken las, durchlief Elisabeth stets zwei Phasen. Erst kam die Melancholie: Sie musste daran denken, wie viele menschliche Schicksale sich hinter den nackten Zahlen verbargen. Wie viele zerstörte Leben, wie viele verzweifelte Eltern.
Danach folgte die Phase der kalten Wut – auf die Dealer, die Schmuggler und ihre Hintermänner, die aus Profitgier Leben vernichteten. Die nicht mal davor zurückschreckten, junge Menschen gezielt abhängig machten.
In dieser Phase hatte sich Elisabeth mehrfach geschworen, alles daran zu setzen, möglichst vielen dieser Gangster das Handwerk zu legen.
Читать дальше