»Hm.«
Er schaute ihr direkt in die Augen und konnte jetzt auch sehen, dass sie leicht gerötet waren. »Also, was ist nun?«, fragte er. »Begraben wir das Kriegsbeil? Oder legen es zumindest mal beiseite, bis sich alles geklärt hat?«
Sie machte eine zustimmende Kopfbewegung und schniefte erneut. »Okay.«
Jack beugte sich zum Tisch vor, zog ein Papiertaschentuch aus der Box und reichte es ihr. Sie nahm es kommentarlos und putzte sich geräuschvoll die Nase.
»Und was hast du jetzt vor? Wo willst du nach ihm suchen?«, fragte sie nasal.
Jack griff in die Innentasche seiner Jacke und zog dann ein längliches Papier heraus. Er reichte es Alice.
»Ein Flugticket?«, fragte sie ungläubig.
»In knapp drei Stunden fliege ich über Edinburgh nach Wick in den Highlands«, erklärte er. »Von dort aus fahre ich mit dem Mietwagen bis nach Gleann Brònach.«
»Du willst ihm nachreisen?«
»Exakt. Ich hefte mich an seine Fährte.«
»Und wenn es keine gibt?«
»Genau deshalb bin ich hier. Ich würde mir gerne mal Felix` Arbeitsplatz anschauen, wenn du nichts dagegen hast.«
Alice lachte humorlos. »Arbeitsplatz? Du meinst den da?«
Sie nickte in Richtung der anderen Seite des Raums. Dort stand ein alter Sekretär, schätzungsweise aus den Sechzigern, eingebettet in ein die ganze Wand einnehmendes Bücherregal.
»Ich hab mir schon alles mehrfach angeschaut«, beteuerte sie. »Die Polizei hatte mich auch darum gebeten, ihr irgendwelche Hinweise zu geben. Aber da ist nichts, was dir weiterhelfen wird.«
»Hm, darf ich trotzdem…?« Jack deutete auf den Schreibschrank.
»Tu dir keinen Zwang an! Sieht sowieso aus wie ein Saustall. Felix kann einfach keine Ordnung halten. Naja, du kennst ja seine Werkstatt; sieht auch nicht viel besser aus.«
Jack stand auf und ging zu dem Arbeitsplatz herüber. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich davor.
»Vielleicht ist gerade das Chaos seine Ordnung?«, mutmaßte er, angesichts der Berge an losen Papieren und verschiedenfarbiger Mappen, die vor ihm lagen. Er würde Alice aber sicher nicht auf die Nase binden, dass sein privater Schreibtisch und auch sein Arbeitsplatz in der Redaktion des Loughton Courier nicht viel besser aussahen.
Sie winkte ab. »Quatsch. Er ist ständig was am Suchen. Und die Buchhaltung für die Werkstatt fliegt auch noch zwischen dem ganzen anderen Kram rum. Das hat wohl mit effizientem Arbeiten nicht viel zu tun, oder?«
Jack erinnerte sich in diesem Moment an die allseits bekannte Statistik, die aussagte, wie viel Zeit ihres Lebens Frauen damit verbrachten, etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Das weibliche Geschlecht war also ebenso nicht gänzlich fehlerfrei, wenn es um Ordnung ging, auch wenn Alice das gerade versuchte, zu propagieren.
Sie erhob sich vom Sofa und stellte sich mit verschränkten Armen hinter Jack. Mit ihrem neugierigen Blick im Nacken nahm er einen Stapel Papiere und blätterte sie durch. Sie betrafen jedoch tatsächlich seine hauptberufliche Arbeit: Es waren Lieferscheine für Motorradersatzteile, mehrere Kopien von Kundenrechnungen und sogar eine Auswertung für das Finanzamt darunter. Er seufzte.
»Verstehst du jetzt, was ich meine?«, wetterte sie und deutete auf eine durchsichtige Mappe. »Die Zettel da in der Hülle gehören zu seinen Nachforschungen für das neue Buch. Ältere Sachen sind alle in den Ordnern im Regal.«
Jack nahm die prall gefüllte Dokumentenmappe in Augenschein. Darin steckten zahlreiche Ausdrucke aus dem Internet sowie ein paar Zeitungsausschnitte und handschriftliche Notizen. Er nahm sie nacheinander heraus und sah sie sich an. Fast alle hatten eine Gemeinsamkeit: Sie betrafen die Ortschaft Gleann Brònach.
»Hat er mit dir über seine aktuellen Recherchen gesprochen?«, wollte er von Alice wissen.
Ein Schulterzucken. »Schon, aber nur oberflächlich. Er weiß, dass ich mich nicht so sehr für diesen Kram interessiere.«
Und Jack wusste es auch; Felix hatte oft genug darüber geklagt, wie wenig Alice von seinem Hobby und Nebenerwerb als Sachbuchautor hielt.
Nachdem er alles grob überflogen hatte, steckte Jack die Papiere wieder zurück in die Mappe und hielt sie in die Höhe.
»Darf ich mir die mal ausleihen?«
»Tu dir keinen Zwang an«, kam die phlegmatische Antwort. Dann schien Alice ein Gedanke zu kommen. »Meinst du, das hat vielleicht was mit seinem Verschwinden zu tun? Seine Nachforschungen, meine ich?«
Jacks Mundwinkel zuckten.
»Möglich ist alles. Zumindest kann ich mich während des Fluges jetzt ein bisschen in die Materie einlesen.« Er sah sich suchend um. »Hat Felix ein Notebook?«
»Hat er mitgenommen.«
»Klar, natürlich. Kennst du zufällig das Passwort für sein E-Mail Konto?«
Alice rollte mit den Augen. »Ja. Er nimmt für alles immer das gleiche. Hab ich ihm schon so oft gesagt, dass das Mist ist.«
»Verrätst du mir, wie es lautet?«
Sie stöhnte. »›aliceinwonderland‹, in einem geschrieben und alles klein. Aber da hab ich auch schon nachgesehen und nichts brauchbares gefunden.«
»Hm.« Jack holte sein Smartphone raus und notierte sich das Passwort in der Notizbuch-App. Dann stand er auf und legte Alice nach kurzem Zögern die Hand auf die Schulter.
»Ich finde Felix, das verspreche ich dir!«, beteuerte er nochmals. Dass er sich damit weit aus dem Fenster lehnte, wusste er. Aber er würde alles dafür tun; schon alleine, um seinen guten Freund und mit ihm den besten Motorradmechaniker wiederzubekommen, den er kannte.
Die Melodie von ›Rule Britannia‹ ertönte und er sah auf das Handydisplay: Es war das Büro von Steven Highsmith. Er machte Alice gegenüber eine entschuldigende Geste und drückte den Annahmeknopf.
»Hi. Was gibt’s neues?«
»Hi. Ich habe inzwischen mit dem zuständigen Beamten von der Police Scotland sprechen können«, erklärte Steve.
»Und?« Jack konnte aus der Stimme des Yard-Beamten diesmal nichts heraushören.
»Tja, also… die gehen davon aus, dass er sich nicht mehr in Gleann Brònach oder der Umgebung aufhält.«
Jacks Stirn legte sich in Falten. »Und wie kommen die zu dem Schluss?«
»Ganz einfach: Er hat seinen Mietwagen pünktlich am Tag seiner geplanten Abreise zur Filiale am Flughafen in Wick zurück gebracht.«
Donnerstag, 15. November 2000 22:47 Uhr
Evie saß mit angewinkelten Beinen in ihrer Bettnische, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen. Sie zitterte am ganzen Körper.
Über ein Jahr war ihre Mum nun tot und noch immer wachte sie nachts schreiend auf. Das Bild ihrer Mutter, die leblos in ihrem eigenen Blut in der Badewanne lag, hatte sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt und es brach immer wieder hervor.
Die Zimmertür wurde leise geöffnet.
»Evie? Alles in Ordnung?«, fragte ihr Vater mit sanfter Stimme. Übermäßige Besorgnis konnte sie nicht in ihr wahrnehmen, eher ein wenig Resignation, denn die Situation war für ihn schon zur Routine geworden.
Das Licht im Kinderzimmer ging an und reflektierte auf dem glänzenden Winnie Pooh Luftballon, den sie vergangene Woche von Lynn zum Geburtstag bekommen hatte und der seit Tagen unter der Decke schwebte. Evies Vater kam herein und setzte sich auf die Bettkannte. Er streichelte ihr sanft über Stirn und Wange; sie waren schweißnass.
»Hey, alles gut«, flüsterte er. »Du hast nur wieder schlecht geträumt.«
Evie nahm seine Hand und presste sie gegen ihr Gesicht. Es war ihr wichtig, seine Nähe zu spüren; sie gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.
»Ich habe Mum gesehen«, sagte sie leise.
Ihr Vater nickte und lächelte mitfühlend. »Ich weiß. Aber es ist alles gut. Es war nur ein Albtraum, nichts weiter. Ich bin da. Versuch jetzt, zu schlafen.«
»Ich hab Angst«, gestand sie und das entsprach der Wahrheit. Auch wenn sie sonst immer das erwachsen wirkende Mädchen war, das nach dem Tod seiner Mutter schnell Selbständigkeit und Verantwortung erlernt hatte, wollte sie jetzt in diesem Augenblick von ihrem liebenden Vater in den Arm genommen werden. Er war schließlich alles, was sie noch an Familie hatte; und auch er wäre ihr beinahe einmal genommen worden.
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