Evies Vater machte ein zufriedenes Gesicht.
»Morgen gehe ich zu Lynn nach Hause und wir machen da die Hausaufgaben. Mrs Glendale hat versprochen, dass sie sich auch alles anschaut.«
»Klingt doch super.« Die Zufriedenheit im Gesicht ihres Vaters wich plötzlich einer ernsten Miene. Er machte noch einen Schritt ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Dann hob er Evie auf seine Arme.
»Hör zu, bleibst du bitte noch einen Moment hier? Ich muss mit deiner Mum etwas Wichtiges besprechen.«
Evie sah ihn fragend an, sagte dann aber »Okay.«
Er setzte sie ab, tätschelte ihr den Kopf und verließ das Zimmer.
Sofort presste Evie ihr Ohr gegen die Tür. Diese Geheimniskrämerei, das konnte doch sicher nur mit ihrem Geburtstag im nächsten Monat zusammen hängen. Gebannt lauschte sie den Stimmen ihrer Eltern.
»Lois, wir müssen was besprechen«, sagte ihr Vater.
»Können wir das nach dem Essen machen, hm?«, fragte ihre Mutter, wenig begeistert.
»Nein, das kann nicht warten. Ich muss das jetzt loswerden.«
Evie gelangte zu der Erkenntnis, dass es wohl doch nicht um ihr Geburtstagsgeschenk ging.
»Ist was passiert?«, fragte ihre Mutter.
»Setz dich!«
»Aber ich muss den Tisch…«
»Setzt dich, bitte !«
Ein Stuhl wurde gerückt.
»Also, was ist es? Warum schaust du so ernst?«, fragte Evies Mutter.
»Mir ist heute gekündigt worden«, sagte ihr Vater gerade heraus.
Evie hielt sich die Hand vor den Mund.
» Oh, nein. Dad hat keine Arbeit mehr ?«
Ihr Dad arbeitete in einem Verlag; er machte dort irgendwas mit Geld. Buchhalter hieß wohl der Job. Weiterhin lauschte sie dem Gespräch ihrer Eltern. Ihr Vater sagte etwas von Stellenabbau. Und dann hörte sie ein Schluchzen; es kam von ihrer Mutter.
»Bitte, reg dich nicht auf, Lois«, bat Evies Dad ruhig.
»Reg dich nicht auf? Natürlich rege ich mich auf! Wie sollen wir denn jetzt überleben? Wie sollen wir die Miete bezahlen? Du weißt, dass ich nicht arbeiten gehen kann!«
Evies Mutter hatte bis vor zwei Jahren, bis sie krank wurde, halbtags als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gearbeitet. Aber dann wurde sie so traurig und musste Tabletten nehmen. Seitdem war sie eigentlich immer Zuhause; bis auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie zu einem Doktor ging, mit dem sie über ihre Krankheit sprach.
»Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte Evies Vater ihre Mutter zu beruhigen. »Ich werde die Stellenanzeigen wälzen, mich umhören und zum Jobcenter gehen.«
»Das ist doch alles sinnlos«, wimmerte die Mutter. »Wir werden auf der Straße sitzen! Mit einem siebenjährigen Kind!«
»Hör auf, so was zu sagen!«, entgegnete der Vater energisch. Er klang jetzt böse. »Natürlich werden wir nicht auf der Straße sitzen. Bis ich was gefunden habe, müssen wir uns eben einschränken. Ich werde mich sicherheitshalber auf dem Sozialamt erkundigen.«
Sozialamt. Evie wusste nicht, was das war, aber als ihr Vater das Wort sagte, begann ihre Mutter noch heftiger zu weinen. Evie war versucht, in die Küche zu gehen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber sie blieb in ihrem Zimmer, so, wie ihr Vater es ihr gesagt hatte.
Ihre Eltern diskutierten noch eine Weile; dann irgendwann hatte sich ihre Mutter wieder gefangen.
»Abendessen ist fertig!«, rief sie über den Flur und Evie ging, mit leichtem Herzklopfen, in die Küche. Sie sah sofort, dass ihre Mutter rote und verquollene Augen hatte. Aber sie hielt es für klüger, kein Wort über das Gespräch, das sie belauscht hatte, zu verlieren.
Während des Essens schwiegen sich ihre Eltern an. Ihr Vater versuchte dies zu überspielen und Evie mit allerlei Fragen zur Schule abzulenken. Doch sie wusste, dass Mum und Dad ernste Probleme hatten.
In der Nacht wurde Evie wach. Ein lautes Geräusch hatte sie geweckt. Mit verschwommenem Blick schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers: Es war kurz nach eins. Dann bemerkte sie, dass es eine Sirene gewesen war, die sie geweckt hatte. Sie klang sehr nah und schien auch noch lauter zu werden. Evie sprang aus dem Bett und lief neugierig zum Fenster. Sie zog den schweren Vorhang zurück und schaute, sich die müden Augen reibend, hinaus.
In diesem Moment hielt unten, direkt vor dem Hauseingang, ein Krankenwagen mit blitzendem Blaulicht auf dem Dach. Zwei Männer stürmten unvermittelt mit großen Metallkoffern und einer Bare heraus und liefen ins Haus.
Was da wohl passiert war?
» Sicher ist was mit Mrs Markway « , dachte Evie noch bei sich. Die alte Frau im Stockwerk unter ihnen war schon sehr gebrechlich und vor ein paar Monaten bereits einmal vom Notarzt abgeholt worden.
Evie zog den Vorhang wieder zu und wollte gerade zurück in ihr warmes Bett schlüpfen, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie kamen aus dem Flur.
»Hier lang!«, hörte sie ihren Vater sagen. Er klang angespannt. Schnelle Schritte huschten im nächsten Moment an ihrer Zimmertür vorbei, sie liefen in Richtung des Schlafzimmers ihrer Eltern.
Jetzt begriff Evie.
» Mum! Mum muss etwas zugestoßen sein !«
Mit reichlich Herzklopfen riss das Mädchen die Tür auf und lief barfuß zum Ende des Flurs. Dort blieb sie abrupt stehen.
Evies Vater stand auf der anderen Seite des Raums, in der Tür zum elterlichen Badezimmer, und hielt sich eine Hand vor den Mund. Er weinte. Evie hatte Dad noch nie weinen gesehen. Er schüttelte immer wieder den Kopf und die Tränen flossen ihm über die Hand. Seine Finger waren rot.
Die beiden Männer aus dem Krankenwagen schienen im Bad zu sein; Evie sah ihre Schatten an der angelehnten Tür.
Als ihr Dad sich umdrehte, entdeckte er Evie. Er stürzte sofort auf sie zu.
»Schatz, bitte komm! Geh in dein Zimmer, schnell!«
Er schob sie sanft, aber bestimmt in den Flur. Doch Evie wollte nicht in ihr Zimmer zurück. Sie wollte wissen, was passiert war. Sie hatte große Angst um ihre Mutter.
»Was ist mit Mum?«, fragte sie panisch. »Was ist mit ihr?«
Ihr Vater versuchte, ihren Arm zu packen, doch sie schlüpfte unter ihm hindurch.
»Evie! Nein!«, schrie er völlig aufgelöst.
Sie lief um das Bett herum zum Badezimmer. In diesem Moment kam einer der beiden Sanitäter heraus und sie stieß mit ihm zusammen. Der Mann im grünen Anzug versuchte, sie an der Schulter festzuhalten, erwischte aber nur den Stoff ihres Winnie Puh Schlafanzugs.
»Hey, Kleine. Du kannst da nicht rein!«
Aber Evie musste zu ihrer Mutter; sie musste wissen, ob es ihr gut ging. Inzwischen hatte sie die schlimmsten Befürchtungen.
»Mum? Mum?«, rief sie.
Warum hörte ihre sie Mutter nicht? Barsch schlug Evie die Hand des Mannes weg und drängte sich an ihm vorbei ins Bad. Dort war es sehr warm; Wasserdampf lag in der Luft. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.
Der andere Mann in seiner grünen Uniform kniete auf dem Boden vor dem geöffneten Medizinkoffer und starrte Evie mit großen Augen an.
Was das Mädchen dann sah, entsetzte sie so sehr, dass sie laut zu schreien anfing und nicht mehr aufhörte: Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen nackt in der Badewanne. Diese war zur Hälfte gefüllt mit rotem Wasser, das langsam ablief.
Montag, 06. Oktober 2014 11:02 Uhr
Jack brauchte vom Yard mit seinem Wagen knapp fünfundzwanzig Minuten bis nach Islington. Dort wohnte Felix mit seiner Lebensgefährtin Alice in einem schmalen Reihenhaus. Es war schon eine ganze Weile her, dass Jack zum letzten Mal dort gewesen war. Meistens hatte er sich mit seinem Freund direkt in dessen Werkstatt getroffen, die sich praktischerweise in unmittelbarer Nähe, in einem kleinen Industrieareal zwischen einer Tankstelle und einem Gebrauchtwagenhändler, befand. Von dort aus waren sie dann um die Häuser gezogen oder hatten gemeinsame Ausflüge mit den Motorrädern unternommen. Außerdem wäre Jack bei Felix Zuhause immer Gefahr gelaufen, auf Alice zu treffen, was er allen Beteiligten gerne hatte ersparen wollen.
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