„Hören Sie, Doktor, ich möchte, dass Sie den Kasten so tragen, dass ich ihn zu jeder Zeit sehen kann. Sollten Ihnen irgendwelche Tricks einfallen, geht das Ding hoch.“ Sein Tonfall hat jetzt an Schärfe zugenommen und seinen Akzent verstärkt.
Jerôme nickt ohne ihn anzusehen, öffnet die Tür zur Desinfektionskammer und tritt ein. Als sich die Tür schließt und er sich jetzt außer Reichweite des Feindes befindet, schöpft er Mut und überlegt fieberhaft, was er tun kann, um sich zu retten und das Vorhaben des Angreifers zunichte zu machen.
„ Können die Signale für die Zündung der Bombe überhaupt durch den Stahlmantel der Kabine dringen?“ , fragt er sich, „ich befinde mich doch in einem Faraday’schen Käfig …“
Das Zischen der Absauganlage kündigt den Abschluss der ersten Desinfektionsstufe an. Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher im Kopfteil des Anzuges lässt Jerôme zusammenfahren. Sie befiehlt, den Arm zu heben, sodass die Bombe zu sehen ist. Er hatte den Arm unabsichtlich sinken lassen. Sofort hebt er ihn wieder nach oben. An seine vorangegangenen Überlegungen kann er nicht wieder anknüpfen, zurückgefallen in den Zustand dumpfen Gehorsams, zwingt er sich, die Bombe weiterhin hochzuhalten. Die Bestrahlung mit UV-Licht hat eingesetzt. Als auch dieser Vorgang beendet ist, öffnet sich die zweite Tür, und Jerôme betritt das Labor. Langsam schließt sie sich hinter ihm.
* * *
„Sie wissen, was Sie jetzt zu tun haben und vor allem, denken Sie an Ihre Familie, Herr Doktor“, klingt es in seinem Helm. Beim Wort Familie spürt Jerôme einen heftigen Stich. Doch Vernunft blockiert sofort das innerliche Aufbegehren. Folgsam geht er zum Stahlschrank, in der linken Hand den schwarzen Kasten. Mit der anderen tippt er den Code zum Öffnen des Safes ein. Er entnimmt dem Schrank einen der beiden Metallzylinder und trägt ihn zum Tisch. Es ist ein runder, wärmeisolierter Aluminiumbehälter mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern und dreißig Zentimetern Höhe. Nachdem er ihn auf den Tisch gestellt hat, holt er den zweiten Zylinder. In seinem Helm ertönt die Mahnung:
„Vergessen Sie die Unterlagen über die Versuchsreihen nicht!“ Jerôme hält inne. Für einen Moment überlegt er, ob er CDs mitnehmen soll, die mit Thrombotoxin nichts zu tun haben. Jetzt ist es die Angst, die den kurzen Anflug an Widerstandswillen bricht. Er geht zum Safe zurück und entnimmt aus einem Ständer zwei CDs. Der nächste Befehl lautet, einen der Behälter zu öffnen. „Dazu muss ich aber beide Hände freihaben.“
„Gut, legen sie die Bombe gut sichtbar zwischen die Zylinder.“ Jerôme schraubt den Deckel vorsichtig ab und entfernt eine runde Abdeckung aus Schaumstoff. Es kommen die mit blauem Material versiegelten Verschlüsse von acht Glasröhren zum Vorschein. Sie stecken senkrecht kreisförmig angeordnet in einem schwarzen Schaumstoffkörper, der den Zylinder als Dämmung ausfüllt.
„Nehmen Sie eins der Dinger heraus!“ fordert der Mann ihn auf. Vorsichtig zieht er eines der Röhren heraus. Es sieht aus wie ein größeres Reagenzglas, darauf ein schmales, längliches Etikett mit einer Nummer, die die Produktionsfolge das Datum der Herstellung anzeigt sowie eine Reihe technisch-chemischer Angaben. Die Füllmenge beträgt zweihundert Milliliter. Am oberen Ende des Glases ist die Öffnung durch einen tief in die Ampulle reichenden Glasstopfen verschlossen: Glasrand und Stopfen sind mit einer blauen Banderole aus Kunststoff umwickelt und verschweißt. Sie fixiert den Stopfen und dient als zusätzliche Außensicherung.
Jerôme hält es dicht vor die Kamera. Vom Eindringling hört er ein zufriedenes „in Ordnung, tun Sie das Ding wieder zurück“. Dann folgt die Aufforderung, die Sachen durch die Schleuse zu bringen. „Hören Sie, wenn Sie die CD unbeschädigt haben wollen, dann muss ich sie in die Tasche des Schutzanzuges stecken, die Hitze und das UV-Licht würden sie nicht überstehen“, wendet Jerôme ein. „Ja, und?“, kommt es zurück. Es folgt eine Pause. Offensichtlich überlegt der Eindringling.
„Wie bringen Sie normalerweise solche Gegenstände aus dem Labor? Die könnten doch von Viren oder solchem Zeug kontaminiert sein?“, kommt die misstrauische Frage.
„Wärmeempfindliche Gegenstände wie Datenträger bleiben im Labor. Wir übermitteln unsere Daten elektronisch an den Zentralrechner des Konzerns. Wenn man dann an die Daten herankommen will, sind zwei Mitarbeiter notwendig, die nacheinander mit ihren persönlichen Codenummern den Zugang ermöglichen. Diese Zugangscodes besitzen nur wenige Mitarbeiter. Für die tägliche Arbeit im Labor wäre diese Prozedur zu umständlich, deshalb werden die laufenden Arbeitsergebnisse auf CDs zwischengespeichert und bleiben als Arbeits- und Sicherungsdateien bis zum Abschluss des Projektes im Labor.“ Offensichtlich war dem Mann im Umkleideraum diese Prozedur nicht bekannt. Jerômes Erklärung scheint ihn zunächst zu überzeugen, dann aber fragt er gereizt:
„Und was ist mit solchen Sachen wie diese Töpfe da?“
„Dafür haben wir speziell isolierte Transportkoffer.“
„Los, dann bewegen Sie sich gefälligst“, schnauzt ihn der Mann an, „und packen Sie die Dinger ein, aber ein bisschen plötzlich!“, er senkt die Stimme und fügt drohend hinzu, „machen Sie keinen Mist, denken Sie daran, wenn der Sprengsatz losgeht, dann ist es aus mit Ihnen, entweder durch die Explosion oder durch das Scheißgas. Die Splitter machen aus den Dingern Siebe. Vor allem, denken Sie an Ihre Familie, was auch der passieren kann.“
„Ja, ja, schon gut“, murmelt Jerôme, holt einen Isolierkoffer aus einem Schrank, legt die beiden Zylinder hinein und verschließt ihn. Dann verstaut er die CDs in der Spezialtasche des Anzuges. Als er damit fertig ist, geht er zur Schleusentür und drückt den Knopf, der die Schleuse öffnet. Die Tür geht langsam auf. Ihm geht plötzlich der Satz durch den Kopf:
„ Denken Sie an Ihre Familie, und was a u c h der passieren kann.“ „Was auch der passieren kann“, dröhnt es in seinem Bewusstsein. Damit wird das, was er logisch hergeleitet hat, nun zur Wirklichkeit:
„ Er wird mich umbringen! Er bringt mich um, wenn ich ihm die Dinge übergebe, das ist sicher!“
* * *
Jerôme hat bereits die Schleuse mit dem Koffer und der Bombe betreten. Die bisher vereiste Angst ist mit einem Schlag aufgetaut. Er fühlt sich wie ein unschuldig Verurteilter unmittelbar vor der Hinrichtung. Nur noch wenige Minuten, bis sich die Tür zum Umkleideraum öffnet. In ihm tobt jetzt Panik.
Er nimmt ein Klicken und Summen wahr. Es kündigt an, dass sich die Labortür hinter ihm zu schließen beginnt. Keine Vernunft gesteuerte Entscheidung, sondern elementare Todesangst ist es, die ihn blitzartig den Koffer abstellen, die Bombe darauflegen, eine abrupte Drehung vollführen und mit einem Hechtsprung zurück ins Labor zurückkehren lässt. Er landet hart auf dem Boden und bleibt in Erwartung einer Detonation dort liegen. Nichts geschieht.
* * *
Langsam kommt Jerôme zur Besinnung. Er richtet sich auf und betätigt den Notknopf, der die geschlossene Tür sicher verriegelt und die Absauganlage zischend in Gang setzt.
„Das war ziemlich riskant, mein lieber Doktor, meine Anerkennung, aber Sie sind noch längst nicht in Sicherheit. Sie besitzen die CDs mit den Herstellungsprotokollen, die ich benötige. Ich habe zwar den Koffer, aber das reicht nicht! Ich werde also hier noch zwei Stunden warten muss, bis ich mir die CDs selbst holen kann. Fangen Sie schon mal an zu beten.“ Er macht eine kurze Pause und fährt dann fort:
„Ach, übrigens, Sie hatten gar keine Bombe in der Hand, es war nur ein harmloses Gerät, das ich für andere Zwecke benötigt hatte“, und fügt zynisch hinzu, „Sie nehmen mir das doch nicht übel?“
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