„Da bin ich anderer Meinung“, lacht sein Gegenüber trocken, „ich bin nämlich der Garant dafür, dass das Zeug in falsche Hände gerät.“
„Was soll damit geschehen?“, fragt Jerôme und weiß gleichzeitig, dass es unsinnig war, diese Frage gestellt zu haben. Umso erstaunter ist er, als der Fremde gelassen antwortet: „Ich weiß es nicht. Ich vermute aber, mein Auftraggeber benötigt das Zeug, um damit jemand zu erpressen.“
* * *
Sie durchqueren den Verwaltungstrakt. Jerôme geht weiterhin voran. Der Fremde folgt ihm mit gezogener Waffe in einem Abstand, bei dem ein plötzlicher körperlicher Angriff wenig Aussicht auf Erfolg hätte. An den präzisen Anweisungen, welcher Weg zu gehen ist, wird deutlich, dass der Eindringling sich sehr genau im Gebäude auskennt. Sein Wissen darüber und über die elektronische Sicherheitseinrichtung war das Ergebnis eines sorgfältigen Studiums einer Drei-D-Computer-Darstellung der Anlage. Das Programm hatte er aus dem Architektenbüro entwendet, das die Laboratoriumsanlage entworfen hatte und bauen ließ. Auch die Kenntnisse der Verschlussanlage der Toreinfahrt stammen aus gestohlenen Unterlagen der Installationsfirmen. Ein Einbruch in diesen Firmen wurde nie festgestellt.
Einzelheiten über die im Laboratorium tätigen Personen, die Arbeitsinhalte, -abläufe und -zeiten hatte er gegen Bestechungsgeld und Alkohol einem frustrierten früheren Mitarbeiter des Laboratoriums entlockt. Diesen fand man vor zwei Wochen tot in seinem Auto. Das offizielle Ergebnis der flüchtigen polizeilichen Untersuchung lautete, dass der Mann in stark alkoholisiertem Zustand mit seinem Jeep von der Straße abgekommen und in den Fluss gestürzt war. Mittlerweile haben Jerôme und sein Bewacher den Umkleideraum erreicht, der dem Labor und der Sicherheitsschleuse vorgelagert ist. Dort fordert ihn der Fremde ruhig, fast beiläufig, auf, sich umzudrehen. Er schaut ihn eindringlich an und befiehlt langsam, Wort für Wort:
„Sie werden jetzt in die Schleuse gehen, den Safe öffnen und alle Proben des Thrombotoxins mitbringen. Haben Sie das verstanden?“ Dann senkt sich die Stimme fast zu einem Flüstern:
„Ich warne Sie, mir Schwierigkeiten zu machen. Ich werde jede Ihrer Bewegungen über die Kameras verfolgen. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann halten Sie sich exakt an meine Anweisungen! Ist das klar?“
„Ja, aber warum sollte ich das tun? Sie werden mich sowieso umbringen“ erwidert Jerôme gefasst, nahezu geschäftsmäßig. Seine Angst, sein inneres Zittern ist wie eingefroren.
Sein Kontrahent schaut ihn an, lächelt und antwortet ebenso kühl: „Ich weiß es nicht, aber vielleicht sollten Sie an die achtunddreißigjährige Frau denken, die mit zwei Töchtern in Marseille im fünften Arrondissement, Rue George Nr. 11 wohnt. Ich glaube, die drei Damen würden sich wünschen, dass Sie meine Bitten exakt erfüllen, weil sonst …“, er hält für einen Moment inne, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Aus Jerômes Gesicht ist alle Farbe gewichen, er benötigt einen Augenblick, um das, was sein Gegenüber eben sagte, zu erfassen. In seinem Kopf dröhnt der Gedanke:
„ Er will Jacqueline und den Kindern etwas antun.“ Mit Mühe sammelt er sich und sagt so entschlossen, wie es ihm möglich ist:
„Das werden Sie nicht! Sie werden meiner Familie nichts antun!“
„Das liegt ganz bei Ihnen“, antwortet der Eindringling mit unbewegtem Gesicht. Dann befiehlt er:
„Nehmen Sie alles aus den Taschen, und legen Sie die Dinge dort auf die Bank.“ Gehorsam entnimmt Jerôme seinen Taschen eine Brieftasche, einen großen Schlüsselbund sowie einige zerknitterte Quittungen.
Der Fremde geht an Schalttafel am Eingang der Desinfektionsschleuse und mit einem Knopfdruck die Fernsehüberwachungsanlage. Er tut das mit einer Sicherheit, als hätte er hier schon Jahre gearbeitet. Licht erstrahlt im Labor und in der Sicherheitsschleuse. Jetzt kann man das fensterlose Labor auf einer Monitorwand überblicken. Sechs Kameras erfassen jeden Winkel des Raumes. Eine weitere Kamera zeigt, was sich in der Desinfektionskammer abspielt.
Jerôme beginnt, die Schutzkleidung anzulegen, die einem Astronautenanzug ähnlich ist. In diesen Anzügen muss auch im Laboratorium gearbeitet werden.
Die Desinfektionskammer ist ein enger viereckiger Raum. Wände und Türen bestehen aus Edelstahl.
Die Stahlschiebetüren werden asynchron geöffnet und geschlossen: Betritt man die Schleuse vom Umkleideraum aus, ist die Tür zum Labor verschlossen, danach schließt sich die Tür zum Umkleideraum automatisch. Es beginnt ein dreistufiger Desinfektionsprozess: Die Person in der Kabine wird mit dem Aerosol eines Desinfektionsmittels besprüht, drei Minuten lang in einhundertundacht Grad Celsius überhitzten Wasserdampf gehüllt und anschließend vier Minuten mit UV-Licht bestrahlt. Verlässt sie das Labor, wird dieselbe Reihenfolge der Prozedur durchlaufen. Allerdings dauert sie jetzt vier Minuten länger. Das garantiert, dass alle extrem widerstandsfähigen Viren, Keime und Pilze abgetötet werden. Durch die besondere Isolierung des Schutzanzuges spürt die Person nichts von den hohen Temperaturen.
Es ist außerdem möglich, die Schleusentür vom Labor mithilfe einer elektrischen Verriegelung zu verschließen. Dann kann niemand von anderer Stelle, also vom Umkleideraum oder der Steuerzentrale, diese Verriegelung das Labor zurücknehmen. Das ist erst dann wieder möglich, wenn eventuell kontaminierte Luft im Labor über ein System von Hochleistungsfiltern und UV-Bestrahlung nach außen abgesaugt und durch gereinigte Frischluft ersetzt ist. Der Vorgang dauert zwei Stunden. Alle diese Sicherheitsmaßnahmen und Abläufe sind dem Eindringling offenbar bekannt.
„Ich möchte, dass Sie jetzt ins Labor gehen und das, was an Thrombotoxin vorhanden ist, mitbringen, und vergessen Sie nicht die Herstellungsprotokolle.“
Als Jerôme schweigt und sich weiter den Schutzanzug überzieht, setzt der Fremde noch einmal nach und fragt wieder mit leiser, drohender Stimme:
„Haben Sie mich verstanden, Dr. Jarcol?“
„Keine Sorge, Monsieur, Sie kann man wirklich nicht missverstehen.“ Der Tonfall, in dem er das sagt, drückt seine ganze Verachtung aus. Der Fremde quittiert das mit einem süffisanten Lächeln. Dann herrscht wieder Schweigen. Jerôme hat den Schutzanzug vollständig angelegt, den Helm aufgesetzt, das darin befindliche Mikrofon und den Lautsprecher eingeschaltet und im Anzug einen leichten Überdruck mit Pressluft hergestellt. Er fühlt sich sicherer, als würde ihn diese hermetische Abgeschlossenheit vor dem Mann schützen. Der Kontrahent greift in seine Gürteltasche und holt daraus den schwarzen Metallkasten mit dem Sender hervor, mit dem er zuvor die Elektronik des Zufahrtstores lahmgelegt hat. Er hat die Größe einer Zigarrenkiste mit einer kurzen Antenne und zwei kleinen Leuchtdioden. Auf einen Knopfdruck hin beginnen zwei kleine Kontrolllampen im Wechsel zu blinken: weiß rot, weiß rot, weiß rot. Dann drückt er Jerôme den Kasten in die Hand und sagt: „Nehmen Sie das Ding hier, es ist eine sehr effektive Bombe, die übersteht problemlos die Temperatur und Feuchtigkeit in der Kammer.“ Er zeigt ihm sein Handy und erklärt, dass er mit einem Zahlencode die Sprengladung zünden kann. Jerôme starrt wie hypnotisiert auf die Lampen. Wieder durchläuft ihn ein Schauer.
„ Nein, ich muss klar im Kopf bleiben“ , reagiert er auf die in ihm aufkommende Panik und beschwört in Gedanken, „bleib’ ruhig, bleib’ bloß ruhig! Nur so hast du eine Chance! “ Der Eindringling spürt die Erregung und ist zufrieden, dass ihm offensichtlich seine Improvisation mit der Bombenattrappe gelungen ist.
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