Jerôme hat sich zwischenzeitlich aufgerichtet, die Sprechanlage auf den Laborlautsprecher umgeschaltet und begonnen, den Schutzanzug auszuziehen. Es ist ihm jetzt gleichgültig, ob in der Raumluft noch Schadstoffe sind. Er muss sich frei bewegen können.
Wieder ertönt die Stimme des Fremden:
„Passen Sie auf, dass Sie sich nicht vergiften, bevor ich Sie erschieße“, gefolgt von einem höhnischen Gelächter. Jerôme antwortet nicht, sondern denkt fieberhaft über eine Lösung nach. Plötzlich kommt ihm ein befreiender Gedanke.
„Ich habe Sie doch hoffentlich nicht gekränkt, dass ich Sie mit der Bombenattrappe getäuscht habe, schmollen jetzt und wollen nicht mehr mit mir reden?“, tönt die Stimme mit gespielter Besorgnis wieder aus dem Lautsprecher. Jerôme beachtet sie nicht, sondern geht zu einem der Labortische, öffnet eine Schublade und beginnt darin zu suchen - ohne Erfolg. Aber in der nächsten Schublade wird er fündig und entnimmt ihr einen Gegenstand. Er ist jetzt ganz ruhig, als er sagt:
„Ich bedauere, aber ich glaube, Sie können hier nicht warten, weil Sie in Kürze Besuch bekommen werden. Es sind Herren in hübschen Uniformen, die Sie in Obhut nehmen werden. In Gabun gibt es zwar keine Todesstrafe, aber die Gefängnisse sind für Europäer sehr wenig komfortabel. Man berichtet, dass die Todesstrafe gnädiger sein soll, als eine lange Haft.“ Und im selben Tonfall, wie sein Gegner zuvor, fährt er fort: „Sie nehmen mir das doch nicht übel, wenn ich die Herren jetzt telefonisch herbitte?“
Jerôme hat den Gegenstand - ein Mobiltelefon - seiner Tasche entnommen und drückt eine Tastenkombination. Der Mann im Umkleideraum hört schweigend zu, wie Jerôme über das Geschehen und die gegenwärtige Situation genau berichtet, eine exakte Personenbeschreibung liefert und den Hinweis gibt, dass der Täter mit einem Metallkoffer flüchten wird, in dem sich hochgefährliche Stoffe befinden. Jerôme beendet das Gespräch. Es bleibt eine Weile still. Moussard ist unsicher und fragt sich,
„Ist es überhaupt möglich, aus dem hermetisch abgeschlossenen Labor zu telefonieren“, dann kommen ihm Zweifel, und er fragt sich, „aber warum befindet sich darin dann ein Handy?“ Er überlegt nicht mehr lange, das Risiko ist ihm zu groß, und er entscheidet sich für den Rückzug. Immerhin hat er das Material bekommen. Dann spricht er ins Mikrofon:
„Ich gebe zu, diese Runde geht an Sie, aber achten Sie gut auf Ihre Familie, die wird keine lange Lebenserwartung mehr haben. Es sei denn, Sie überlassen mir die Unterlagen. Ich werde jetzt gehen, aber denken Sie daran, ich finde Sie und Ihre Leute überall.“ Jerôme antwortet ganz ruhig mit sicherer Stimme:
„Sie sind ein professioneller Killer und werden wahrscheinlich der anrückenden Polizei entkommen. Aber ab sofort werde ich Sie jagen und zur Strecke bringen, ganz gleich, was passiert. Sie sind zu weit gegangen, Sie hätten sich nie mit mir anlegen und meine Familie bedrohen dürfen. Wahrscheinlich beeindruckt Sie dieser Schwur eines blutarmen Wissenschaftlers, der nicht einmal mit einer Waffe richtig umgehen kann, nur wenig. Das aber wäre Ihr nächster schwerer Fehler. Und übrigens, ohne die CDs haben Sie keine Chance, den Stoff herzustellen. Selbst mit den Protokollen benötigt ein außenstehender Fachmann eine sehr lange Zeit, um - wenn überhaupt - ans Ziel zu gelangen.“ Jerôme hält einen Moment lang inne und spricht dann weiter:
„Wenn Sie glauben, dass ich diesen komplizierten Herstellungsprozess wie ein Küchenrezept auswendig kann, dann wäre das ein weiterer schwerer Fehler. Hier geht es nicht um ein einfaches Backrezept, sondern um Prozesse, bei denen Temperatur, Menge, Dichte, viele Agenzien und Katalysatoren sehr genau abgestimmt werden müssen. Also, um dieses Zeug herstellen zu können, benötigen Sie beides: mich und die Herstellungsprotokolle. Ich werde dafür sorgen, dass man diese Protokolle vernichtet, und ich werde Sie jagen und zur Strecke bringen, nicht umgekehrt. Machen Sie Ihrem Auftraggeber klar, er soll sein Vorhaben aufgeben. Er wird diese Substanz nicht produzieren können. Also dann Monsieur, wir sehen uns wieder, das verspreche ich.“
Über den Lautsprecher erschallt von der anderen Seite nur ein kurzes, trockenes Lachen. Dann ist außer der Absauganlage und dem Summen des Lautsprechers nichts mehr vom ungebetenen Gast zu hören. Er hat das Feld geräumt. Jerômes Anspannung macht sich erneut bemerkbar. Er vibriert plötzlich am ganzen Körper. Die Batterie des Handys im Labor war nämlich leer, sodass er weder die Polizei noch seine Familie anrufen konnte. Was wäre geschehen, hätte der Mann den Trick durchschaut? Ihn ergreift schlagartig eine lähmende Müdigkeit.
Er schleppt sich auf einen Stuhl bleibt dort regungslos sitzen und verfällt in einen Dämmerzustand.
* * *
Moussard verlässt den Gebäudekomplex mit einem Koffer in der Hand. Er bewegt sich schnell und gewandt, ständig Deckung suchend. Mit wenigen weiten Schritten überquert er die mittlerweile getrocknete Straße und verschwindet dort, wo er zuvor aus dem Dickicht herausgetreten ist.
Wenige Minuten später ist ein Motorrad zu hören, das über den Sandweg in Richtung Hauptstraße knattert. Ein silberner Koffer ist auf den Gepäckträger geschnallt.
Auf der Hauptstraße achtet er sorgfältig auf Fahrzeuge, die ihm aus der Richtung Franceville entgegenkommen. Um diese Zeit herrscht nur schwacher Verkehr. Wenn er ein Fahrzeug sieht, löscht er das Licht des Motorrades. Mehrmals hält er an und verdrückt sich in den Busch seitlich der Straße.
Verwundert darüber, dass er keine Polizei gesehen hat, erreicht er seine Unterkunft - ein kleines, primitives, alleinstehendes Häuschen in der Vorstadt von Franceville. Das Motorrad hat er zuvor in einiger Entfernung von seiner Hütte an einem Baum abgestellt. Es wird sehr schnell einen neuen Besit-zer finden. Im Haus entkleidet er sich, stopft seine verschwitzten Sachen in einen Müllsack. Auch seine technische Ausrüstung kommt dort hinein. Er geht dabei ruhig, systematisch und zügig vor. Nach der Dusche wählt er einen hellen Anzug, kleidet sich an und legt seinen Panamahut zurecht. Die übrigen Kleidungsstücke durchsucht er sorgfältig und lässt sie im Schrank zurück.
Beide Metallzylinder, die Glock und nicht benötigte Pässe verstaut er in einen Diplomatenkoffer. Er ist mit einem Siegel und der Aufschrift „Valise diplomatique“ - Diplomatengepäck - versehen.
Ein Taxi bringt ihn zum Mvengue Airport Franceville. Unterwegs lässt er den Wagen hinter einer Brücke anhalten. Er entledigt sich des Müllsacks, indem er ein Stück zurückläuft und ihn in den Fluss fast ausgetrockneten Fluss wirft. Ihm ist es gleichgültig, ob der Taxifahrer ihn dabei beobachten kann. Diese Art der Müllentsorgung ist hier üblich.
Am Flughafen angekommen, vermeidet er beim Durchqueren der Halle, so gut wie möglich, ins Blickfeld der Überwachungskameras zu geraten. Ehe er zum Check-In geht, besucht er die Toilette. Vor dem halb blinden Spiegel überprüft er sorgfältig sein Äußeres. Der graue Vollbart und die dunkel getönte Hornbrille lassen ihn älter und wie einen Wissenschaftler erscheinen. Beim Einchecken zeigt er seinen belgischen Diplomatenpass und die Papiere, die den Koffer als Diplomatengepäck ausweisen. Als Diplomat darf er nicht verhaftet und sein Gepäck nicht kontrolliert werden.
Die erste Etappe des Fluges ist die Hauptstadt Libreville. Kurze Zeit später geht ein Anschlussflug nach Paris. Von dort folgt der Weiterflug nach Brüssel, wo er am frühen Sonntagmorgen ankommen wird.
Im Warteraum des Abflugbereichs widmet sich Moussard jetzt Jarcols Handy. Er möchte das Gerät so schnell wie möglich loswerden. Gerade als er beginnen will, die Daten im Speicher zu untersuchen, meldet das Handy den Eingang einer SMS. Er liest die Nachricht. Nach einem Blick auf seine Uhr, muss er still in sich hinein grinsen und denkt:
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