Bald nach Ende des Regens öffnet sich die Tür des Hauseinganges und vier Männer treten heraus. Es sind drei Afrikaner und ein Europäer. Zwei von ihnen rauchen. Sie lachen und reden laut, während sie gemächlich zum Jeep gehen. Einer der Farbigen verabschiedet sich von den anderen, und nachdem diese in das Fahrzeug gestiegen sind, kehrt er winkend ins Gebäude zurück. Der Jeep setzt sich in Bewegung. Das große Portal hat sich bereits mit leisem Quietschen geöffnet und gibt den Weg zur Straße frei. Dann schließt es sich automatisch. Der Wagen schaukelt durch die Mulden, wie Schiff in schwerer See. Schlamm spritzt rechts und links neben dem Wagen hoch auf. Noch eine Zeit lang sind die schwankenden roten Punkte der Heckbeleuchtung zu sehen. Dann ist der Wagen in die Hauptstraße abgebogen. Im Gebäude werden die Lichter gelöscht. Der versteckte Beobachter auf der anderen Seite der Straße hat alles mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, verbleibt jedoch in seinem regungslosen Zustand. Er wird noch eine Weile warten, um dann den wichtigsten Teil seines Auftrags zu erledigen.
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Dr. Jerôme Jarcol steuert den Wagen über die aufgeweichte Sandpiste. Er benötigt etwa dreißig Minuten Fahrzeit bis zu seinem Haus in der Bungalowsiedlung vor den Toren von Franceville. Diese ist eigens für die europäischen Mitarbeiter des Konzerns errichtet worden. Heute dauert die Fahrt etwas länger, weil er die beiden Kollegen noch im Stadtzentrum absetzen wird.
Jerôme ist ein kräftiger, etwas untersetzter Mann. Sein kantiges Gesicht mit den wachen, dunklen Augen, der Boxernase und dem dunklen Haar im Bürstenschnitt lässt ihn wie einen Angehörigen des Militärs oder der Polizei erscheinen, weniger als einen Wissenschaftler. Vor drei Wochen hat er das zweiundvierzigste Lebensjahr vollendet. Drei Dinge in seinem Leben sind ihm wichtig: seine Familie, die Arbeit und der Sport.
Schon als Jugendlicher war er sportlich aktiv, hatte sich verschiedenen Kampfsportarten verschrieben. Während seines Studiums gewann er einmal die französische Universitätsmeisterschaft im Karate.
Die wenige Freizeit, die Temperatur und die hohe Luftfeuchte erschweren hier in Gabun ein systematisches Sporttraining. Als Folge davon deutet sich bei ihm ein kleiner Bauchansatz an.
Seine berufliche Entwicklung verlief geradlinig und zügig. Abitur, Wehrdienst und Studium. Was er studieren wollte, war ihm schon seit der Schulzeit klar. Biochemie faszinierte ihn, und er schrieb sich nach der Schulzeit als Student an der Universität Paris-Süd ein. Seine Leistungen waren hervorragend. Er erhielt ein Auslandsstipendium für ein Jahr in Deutschland an der Freien Universität Berlin. Zurück in Paris, schloss er sein Studium ab, wurde Assistent am Lehrstuhl für Biochemie, promovierte und arbeitete fünf Jahre in der akademischen Forschung. Dann kam das Angebot der Firma Trouvaille in Marseille. Die Forschung in der pharmazeutischen Industrie hatte ihn bis dahin nicht besonders gereizt, jedoch war das Angebot so attraktiv, dass er sich entschloss, es anzunehmen. Er zog nach Marseille und entwickelte zusammen mit seinem älteren Kollegen Dr. Malin ein Forschungsprogramm, das in einem eigens dafür gebauten Labor in Gabun realisiert werden sollte. In Marseille lernte er seine spätere Ehefrau Jacqueline kennen, eine Krankenhausärztin, mit der er zwei Töchter hatte - drei und vier Jahre alt. Seit Beginn der Anstellung beim Trouvaille Konzern pendelte er im Wechsel von sechs Wochen Arbeit und einer Woche Urlaub zwischen Marseille und Franceville.
Während der Autofahrt nach Franceville bespricht man die neue Versuchsreihe, die am Montag gestartet werden soll. Dabei fällt Jerôme ein, dass er seine Aktentasche mit wichtigen Unterlagen und zwei wissenschaftliche Zeitschriften im Labor hat liegen lassen. Er hatte sich vorgenommen, am Sonntag zuhause noch einige Ergebnisse der letzten Versuchsreihe auszuwerten. Jerôme ist ärgerlich und überlegt, ob er jetzt zurückfahren oder morgen früh die Unterlagen holen soll. Er entscheidet, zurückzufahren, um an seinem freien Tag nicht auch noch ins Labor zu müssen.
Das Stadtzentrum ist erreicht. Jerôme lehnt die Einladung der Kollegen zu einem gemeinsamen Umtrunk in einem Bistro dankend ab. Dort will man auch noch etwas vom Fußballspiel sehen.
Nachdem er seine Mitfahrer an ihrem Ziel hat aussteigen lassen, ruft er über Handy im Labor an. Sofort meldet sich die Stimme des Wachmannes, und Jerôme kündigt sein Kommen an.
„Soll ich Ihnen die Tasche bereitstellen, Doktor?“
„Nein, nicht nötig Joseph, ich nehme gleich noch andere Unterlagen mit. Wo Sie die finden können, ist zu kompliziert zu erklären. Ich bin schon auf dem Weg und werde in etwa einer halben Stunde bei Ihnen sein.“
„O. K., bis gleich, Doktor!“ Der Wachmann widmet sich wieder dem Fußballspiel im Fernsehen.
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Eine halbe Stunde nach Abfahrt des Wagens erwacht der Beobachter aus seiner Erstarrung. Um aktiv zu werden, muss er den stillgelegten Körper und das Bewusstsein wieder zusammenfügen. Dazu atmet er mehrmals tief durch, spannt und entspannt die Muskeln im schnellen Wechsel. Dann ist er wieder vollständig handlungsfähig. Endlich kann er den Regenumhang abstreifen. Durch die hohe Außentemperatur hat er einen Saunaeffekt bewirkt. Jetzt hängt er ihn an den verdorrten Ast eines Okoubakabaumes.
Langsam bewegt sich der Mann aus dem Dickicht. Er ist knapp einen Meter neunzig groß, schlank, trägt ein Militär-T-Shirt, das vom Schweiß an vielen Stellen durchtränkt ist und schwarze Flächen auf dem olivgrünen Stoff gebildet hat. Die helleren Gurte des Schulterhalfters heben sich davon deutlich ab. Im Halfter steckt eine Glock, Kaliber neun Millimeter. Am Gürtel der Camouflage Cargohose ist eine breite, geräumige Tasche befestigt. Deren Ausbeulung weist darauf hin, dass sich darin allerlei Gerät befindet. Insgesamt bietet der Mann das Bild eines durchtrainierten, erfahrenen und gut ausgerüsteten Kämpfers. Dieser Eindruck wird noch durch seine geschmeidigen Bewegungen unterstrichen.
Geduckt, mit weiten Sprüngen überquert er die Straße und erreicht das Eingangsportal am Zaun. Durch die Signale eines kleinen Sendegeräts, das er der Tasche am Gürtel entnommen hat, und mit ein paar Handgriffen gelingt es ihm, das Tor einen Spalt weit zu öffnen. Er ist zufrieden. In den vergangenen Tagen und Nächten musste er sich neben seinen Beobachtungen der Personen, der Abläufe im Laboratoriumskomplex und des Kommens und Gehens auch intensiv mit dem Schließmechanismus des Tores beschäftigen. Dabei half ihm eine Herstellerzeichnung über Mechanik und Elektronik des Torverschlusses, die er sich vor seiner Ankunft in Gabun besorgt, und mit der er sich in den letzten Tagen vertraut gemacht hatte. Nach erfolglosen Versuchen, den Funkcode, der den Verschlussmechanismus entriegelt, zu identifizieren, ist er auf einen erstaunlichen Konstruktionsfehler des Verschlusssystems gestoßen. Mithilfe eines einfachen, selbst gebauten Senders konnte er den elektronischen Code löschen, wodurch das Öffnen des Tores mechanisch per Hand möglich wird. Dies hatte er in der vergangenen Nacht erfolgreich am Tor getestet und jetzt wiederholt. Er schlüpft durch den Spalt des Portals, läuft tief gebückt über den Rasen, vermeidet, ins Licht der Wegbeleuchtung zu geraten, benutzt Bäume und Sträucher als Deckung und erreicht schnell den Vorplatz zum Gebäudeeingang.
Er klopft mehrfach energisch an die Eingangstür. Nach einer Weile entsteht im Haus Bewegung. Eine Tür wird geöffnet, und die Geräusche eines im Fernsehen übertragenen Fußballspiels dringen nach draußen.
Schritte nähern sich der Eingangstür. Das Licht über dem Eingang flammt auf. Der Unbekannte zuckt unwillkürlich zusammen.
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