Du bist frei. Das Meer steht dir offen. Dein Messer bricht dir Bahn durch jedes Dickicht. Zieh fort mit den Vögeln. Kreise mit dem Geier um steile Felsen oder schrei mit den Möwen. Du bist frei, verschollen. Dein Grabstein ist zerbrochen. Ein Schädel und ein paar Knochen, das ist von dir übrig.
Du bist frei aber in Ketten. Du bist der Sklave deiner Freiheit und womöglich verdammt. Schau in den Spiegel und erschrick. Schau nicht in dein Herz.
Nacht sank zur Erde herab. Die Menschen fingen an zu taumeln. Sie starrten in die Dunkelheit und vergaßen den Sinn, irrten im Nebel, verfehlten die eine Tür.
Sucht die Kerze und zündet sie an. Kehrt zurück in eure Stuben, ertrinkt in den Augen eures Gegenübers und vergesst die, die draußen frieren. Einen Lichtstrahl aber lasst heraus aus euren Fenstern, um die Nachtfalter anzulocken. Sie prallen gegen eure Scheiben, schwirren und taumeln.
Die draußen durch die Nacht irren. Ihr holt sie nicht ein.
Mein Zustand hat sich in der letzten Stunde gebessert. Eine Stunde lag ich, ohne zu denken, atmete Klänge von Bach und Sibelius ein. Langsam wich der Druck. Ein Blick in das Neue Testament und ein Song der Beatles brachten mich wieder ins Leben zurück. Diese jetzt so halb überstandene Krise (übrigens schon die zweite heute) zeigt eines ganz deutlich. Es ist unmöglich, jeden Tag brav in die Schule zu gehen, aufmerksam am Unterricht teilzunehmen, zu lernen, Geige zu üben, und was an ähnlichen Beschäftigungen anliegt, wenn man nicht immer wieder die eigenen Batterien auflädt, wenn man sich nicht täglich rückbesinnt auf den Gott, in dem alles gründet. Die Folgen, die aus dem heutigen Tag zu ziehen sind, sind eindeutig. Jeden Tag eine Stunde oder zwei halbe Stunden, in denen ich Musik höre, schreibe, träume, oder meinen ausgeleierten Körper trainiere. Mir fällt kein anderer Weg ein, Ruhe zu finden.
Heute bin ich, ein seltener Fall, ausnehmend gut gelaunt. Allerdings überkamen mich zweimal Erregungszustände, die beide Male einem Gefühl von Glück und Freiheit wichen. Der erste Anfall überraschte mich in der Schule. Der zweite packte mich nach dem Mittagessen in meinem Zimmer. Ich warf mich aufs Bett und versuchte Ruhe zu finden, eventuell einzuschlafen. Es misslang. Ich holte mein –vor kurzem erstandenes- Metronom hervor und stellte es auf langsames Schwingen ein, betrüblicherweise ohne Erfolg. Dann erhöhte ich die Geschwindigkeit, glich die Frequenz der Pendelschwingung an meinen Puls an und senkte sie dann langsam ab parallel zur Verlangsamung meines Herzschlags. Nach vielleicht 10 Minuten konnte ich das Metronom abstellen und verblieb für weit über eine Stunde völlig ruhig liegen, ganz entspannt, ohne zu denken. Nachdem ich aufgestanden war, mein Gesicht mit kaltem Wasser abgewaschen hatte, anfing, Geige zu üben, spürte ich ein unwahrscheinliches Wohlbefinden, das sich (ausgehend vom Magen) im ganzen Körper ausbreitete. Es war, als wären Ketten von mir abgefallen. Ich staunte und freute mich.
Allmählich komme ich auf die Ursachen meiner Erregungszustände, habe aber noch keine volle Klarheit. Zurzeit verschieben sich viele Grenzen.
Sieg bis auf Widerruf! Freude und Unbehagen! Das kennzeichnet ungefähr meine augenblickliche Verfassung. Nach unserer misslungenen Begegnung vor einer Woche, hat es mich ziemliche Überwindung gekostet, Dorothe nochmals anzurufen. Aber anscheinend hat es sich gelohnt. Dieser vermeintlich letzte Versuch verlief entschieden anders als erwartet. Schon die Begrüßung war ungewohnt herzlich, und jetzt sehe ich die Morgenröte aufgehen. Beim zweiten Mal stellt man sich vielleicht doch besser an als beim ersten Mal. Meine Liebe zu dir kennt keine Grenzen, wohl aber meine Geduld.
Höre mich Morgen,
senk dein Haupt, hauche mich an,
blick mich an, spiel mit mir
und nimm mich mit dir.
Ich bin ausgedörrt, brauche Leben,
brauche Menschen.
Lass mich
unter die Menschen gehen,
ohne Gedanken ihr Spiel spielen.
Gib mir Mut!.
Er saß nicht weit von ihr, erkannte sie nicht gleich, die unter den Vielen Verborgene. Unruhig hob er den Blick und senkte ihn sogleich, erschrocken. Sie saß nicht weit von ihm, blickte auf die Bühne. Der Faden, der sie verbunden hatte, war zerrissen. Sie sah an ihm vorbei.
Er kennt die Unruhe, das Erschrecken vor dem ersten Sonnenstrahl. Er ist Knecht, reißt sich noch einmal los und verschmilzt mit der Nacht, die ihn umhüllt. Wille erlahmt. Die Welt wird trübe, löst sich auf, stirbt für eine Nacht. Neuer Tag! Neue Sonne!
Leider habe ich keine Ahnung von Verstechnik. Es ist ein Jammer.
Sie treiben die Menschen zusammen, töten sie und verscharren sie. Sie wenden ihre ganze Erfindungsgabe auf, um neue Mittel zu ersinnen, Menschen umzubringen. Sie grinsen, wenn blutende Körper vor ihnen zusammenbrechen. Hunger und Trostlosigkeit lassen sie zurück. Sie bringen Leid über die Menschen. Tränen ersticken die Hoffnung der Überlebenden.
Ich sehe ein Gesicht vor mir, große dunkle Augen, gerahmt mit glitzernden Perlen, die an den Lidern hängen und herabrollend silberne Bahnen über die Wangen ziehen. Die Augen blicken mich an, ratlos, stumm, fragend. Einst habe ich dieses Gesicht lachen gesehen, habe gesehen, wie dieser Mund sich spöttisch verzog. Ich sah schwarze Haare sich um die Stirn schmiegen. Mein Herz verkrampft sich. Ich nähere meine Hand, um zu trösten. Das Gesicht erstarrt erschrocken. Ein aufgedunsener Kopf mit verzerrten Gesichtszügen und hohlem zerfallendem Blick starrt mich an.
Du schaffst Sinn, wenn du deine Kräfte darauf verwendest, ein wenig mehr Liebe in die Welt zu bringen.
Liebe, ein großes Wort. Entsage der Falschheit, der Rohheit, der Sorge und stelle dich in den Dienst des Herrn.
Du hast nicht Menschen als Gegner, sondern den einen Satan. Vergiss nicht, dass dieser sich auch in dein Herz eingeschlichen hat. Wenn du ihn besiegen willst, dann lerne zu beten, zu dem, der allein dir die Kraft geben kann, die du für diesen Kampf brauchst.
Die Zeit zerrinnt. Die Zeiger auf der großen Uhr rücken stetig vor. Das große Pendel, diese Weltkugel, schwingt im gleichen Takt. Der Raum tickt und dreht sich, kreist um ein Zentrum? Wie Tropfen fallen die Sekunden, zerplatzen und gehen auf im Fluss, der uns umspült. Die Zeit zerrinnt. Wer hält den Zeiger an? Wir fließen in einem gewaltigen Strom, treiben dahin. Wir möchten ans Ufer schwimmen, diesen Fluss verlassen, uns fest halten an den Wurzeln alter Eichen. Wir möchten zuschauen, wie der große Strom an uns vorbeizieht. Wir suchen den Grund, aus dem wir kommen, in dem wir behütet waren.
Die Nacht lockt, zieht uns in die Dunkelheit. Auf schwankenden Stegen schreiten wir, tauchen unter ins Dickicht, schleichen auf heimlichen Pfaden, versinken in der Schwärze. Jemand ruft. Ich suche dich, dränge mich zu dir, taumle, stolpere und bin gefangen. Und ich erblinde. Nacht, ich komme. Äste peitschen mir ins Gesicht. Wo finde ich die Elfe, die auf der Lichtung tanzt?
Nur noch Nacht und Leere, kahle Bäume, an denen Schlangen herabgleiten. Kein Weg mehr. Beug das Knie Trotzkopf, erkenne, dass da etwas ist größer als du, etwas das dich zwischen zwei Fingern zerdrücken kann.
Die Liebe ist eine große Sache. Es gehört Reife dazu, lieben zu können, füreinander da zu sein. Es täte gut, sich auf das Wesen der Liebe zu besinnen, das sich als inneres Feuer zeigt, das zugleich Flamme und milder Kerzenschein ist. Wir wehren uns gegen Verflachung, gegen Abstumpfung und sentimentales Schmalz. Die echten Gefühle sind wieder zu entdecken, die verschüttet sind unter einem Berg von Kleinlichkeiten. Dann werden wir feststellen, dass wir trotz aller Anstrengung, die der Teufel von heute unternommen hat, um uns zu seinen Ebenbildern zu machen, dennoch Menschen geblieben sind, Menschen, die wahrnehmen im vollen Sinn des Wortes, Menschen, die mit feinem Gefühl das Bild ihrer Welt aufnehmen, deren Nerven noch empfindlich geblieben sind, auch die feinen Reize des Lebens wahrzunehmen.
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