Heute bete ich: Danke Herr, danke für die Gnade, die du mir geschenkt hast, für alle, die du in meine Nähe gestellt hast, damit ich sie annehme, so wie du mich annimmst. Leider habe ich in letzter Zeit nur mich bedacht, über meine Probleme gegrübelt, mich mies gefühlt und verlassen von dir oder allen guten Geistern. Ich werde mich nicht in mir selber finden, vielmehr in den Menschen, die ich liebe. Lieben aber kann ich nur, wenn ich mich öffne. Noch ist der Weg zu dir unübersehbar weit. Hilf mir, dass ich schneller laufe, Ballast und Falschheit abwerfe und nur die Liebe behalte. Zielbewusst lernen, arbeiten und leben ist Erziehung zur Liebe. Es wird Zeit, dass ich meinen Fleiß etwas kräftiger und häufiger gieße, damit er endlich wächst und Früchte bringt.
Mir wird zunehmend klar, dass ich mich gegenüber meiner Schwester falsch verhalte. Was muss sie von mir denken? Ich muss einen ganz anderen Weg einschlagen, wenn ich sie im guten Sinne bilden will, sie nicht verständnislos kritisieren, sondern ihr helfend und verstehend zu begegnen. Mit Taten, nicht mit Worten auf sie wirken!
Ganz klein muss ich werden, damit Gott in mir wachsen kann. Ich sollte mich ganz vergessen, um in Gott groß zu werden. Man mag es nicht glauben, wie Sinn stiftend eine kleine Halsentzündung sein kann, wie sehr sie die Selbstbesinnung fördern kann.
Eine neue bestürzende Erkenntnis: Menschen drängen darauf, Liebe an dich weiterzugeben. Du musst dich ihnen nur öffnen.
Unverständlich unerreichbar (21)
Alle Klarheit ist wieder dahin, alle Sicherheit verloren. Die gleichen Fragen stellen sich wieder und wieder, und ich finde keine Antwort. Wozu hat Gott mich in diese verrückte Welt gesetzt, in der ich mich kaum zurechtfinde? Dieses Leben ist Unsinn. Es wäre besser, ewig zu schlafen, traumlos, sicher und selbstvergessen. Die Welt wird mir immer rätselhafter. Früher konnte ich Selbstmörder, Beatle-Fans und Weiteres, was in diese Richtung geht, nicht verstehen. Jetzt weiß ich, wie schwierig es sein kann, mit sich selbst ein Auskommen zu finden, sich fünfzehnmal die gleiche dumme, Schallplatte anzuhören, bis man ganz ausgehöhlt ist, bis alle Fragen ausgelöscht sind.
„Wie geht es dir?“, „Gut“, „Kein Wunder bei der Frau!“ Idiot, der sowas sagt und meint. Je attraktiver ein Mädchen ist, desto schwieriger wird es für den, der sie liebt, ganz besonders im vorliegenden Fall, wo man einfach nicht weiß, woran man ist. Eine Zeitlang glaubte ich, Dorothe sei auf Jungen aus, wie die meisten. Sollte ich mich getäuscht haben? Ist sie wirklich so vernünftig, wie sie sich darstellt? Oder liegt ihr nicht wirklich an mir? Würde sie aber dann mit mir ausgehen? Alles Mutmaßungen, die zerfallen wie ein Kartenhaus, und ich stehe da wie ein Tölpel, der nicht weiß, was er anstellen soll. Was ich anfange, zerbröselt. Ich komme mir vor wie ein Möchtegern-Bergsteiger. Ich klettere, meine Beine werden weich, meine Hände verlieren den Halt und ich rutsche ab. Ich fange von vorn an und wieder passiert es. Je höher ich aber komme, desto tiefer falle ich.
Es ist zum Weinen, so blöd sind die Bilder, die mir im Kopf herumfahren. Thorsten der Held, der kaltblütig sein Leben einsetzt, um das seiner Liebe zu retten, der mit Revolver und Maschinenpistole hantiert wie Andere mit dem Bleistift. Es widert mich an.
Liebe Dorothe!
dieser Brief wird dich leider nie erreichen. Ich habe nicht die Absicht, ihn in die Post zu geben. Je länger ich dich kenne, desto mehr bin ich beeindruckt, und ich wünsche mir, dass wir in einem Jahr und später genauso miteinander gehen wie jetzt. Leider stehen diesem Wunsch Hindernisse im Weg. Das erste ist meine Unfähigkeit, mich dir gegenüber unbefangen zu verhalten. Überhaupt finde ich mich in der Welt derzeit schlecht zurecht. Um mich in dieser seltsamen Welt einigermaßen sicher zu bewegen, habe ich auf Basis meiner Eindrücke, Verhaltensregeln aufgestellt. Nun aber ist mein Regelwerk eingestürzt. Du bist anders als die Frauen, die ich kennengelernt habe. Bei denen wusste ich mich zu verhalten, wusste, was sie von mir erwarteten, und wann ich die Verbindung zu ihnen abbrechen musste, wenn ich nicht meinen starren Prinzipien untreu werden wollte, oder Gefahr lief, mich auf etwas einzulassen, was mir später leidgetan hätte.
Schließlich waren sie mir alle nicht wirklich wichtig. Ich wollte mit ihnen verkehren, aber ansonsten halbwegs Ruhe haben. Gleichgültigkeit war meine Einstellung, und mit der hatte ich sogar Erfolg. Dummerweise bist du mir überhaupt nicht gleichgültig. Erschwerend ist, dass ich mir von dir kein klares Bild machen kann. Entweder bist du tatsächlich so vernünftig, wie du tust, worüber ich mich freuen würde, oder du spielst bzw. heuchelst. Meine Unsicherheit ist die Ursache dafür, dass ich mich bei dir so dumm anstelle. Du musst Geduld haben und Nachsicht mit mir üben.
Programm für Montag:
In der Schule aufpassen, mitarbeiten, sich um Klassenkameraden und Pfadfinder-Mitgliederwerbung kümmern. Danach Dorothe abholen, sich bei ihrer Mutter für ungeschicktes Benehmen entschuldigen. Zuhause Latein lernen, etwas Sport, abends zur Erholung Pläne für die Oberrunde ausarbeiten, und nicht zuletzt Beten.
Herr, ich komme mir verstoßen vor. Wozu bin ich in diese Welt gesetzt? Doch nicht dafür, dass ich hier sitze und mich im Gespinst meiner Gedanken verliere! Ich möchte abwerfen, was mich schwermacht, was mich festhält fern von dir. Ich spüre den Dämon in mir. Er durchströmt meine Glieder, er dringt in mein Gehirn ein. Er klammert sich an mich. Du aber bist entfernt, unerreichbar. Du hast mich verlassen hast mich einfach zurückgelassen. Komm zurück!
Meine Stimmung hat sich entschieden verbessert. Noch ein schwaches Brummen im Kopf, aber sonst wiederhergestellt. Ich sehe meine Chancen steigen. Nach meinem Entschuldigungsanruf, mit dem ich mein Ansehen bei Frau Wolfrath wohl gehoben habe (man weiß ja, wie blöd ich mich letzten Samstag benahm, ausführliche Erörterung erübrigt sich also) hoffe ich, dass die Mutter ein gutes Wort für mich bei der Tochter einlegt.
Frau Tolksgraf, die Witwe unseres kürzlich an Magenkrebs verstorbenen Mathelehrers, die wir (um Material für einen Nachruf zu sammeln) heute besucht haben, ist eine tolle Frau. An ihr könnte sich Großmutter ein Beispiel nehmen. Noch nie habe ich den Unterschied zwischen zwei Menschen gleichen Alters, die dasselbe erlebt haben, so deutlich gesehen wie heute. Wieder ein neues Vorbild.
Mein Vater ist ein Kind, ein unbeholfener Kindskopf. Er benimmt sich jedenfalls so. Heute fiel es mir besonders auf, schon als er in Lederhosen in die Küche kam, vollends aber, als wir unsere Hecke, die der Gärtner reichlich kurz und dünn geschnitten hatte, so dass man von der Straße bis hinein ins Wohnzimmer sehen konnte, mit zwei Schilfmatten bedeckten. Gegenüber der Nachbarin, Frau Merbel, konnte man sein Benehmen noch gelten lassen, aber gegenüber Herrn Merbel, war sein Auftreten kümmerlich. Jetzt weiß ich, wie ich später nicht sein möchte: tapsig, pessimistisch, plump. So darf ein Mann nicht sein, jedenfalls sollte man es ihm nicht so krass anmerken. Es ist traurig, dass ich über meinen Vater so urteilen muss, besonders da ich ja weiß, dass er sich im Berufsleben sehr vernünftig darstellt. Aber die Grundstruktur seiner Persönlichkeit ist falsch. Leider habe ich die gleichen Fehler wie mein Vater, wenn auch noch nicht so deutlich ausgeprägt. So muss ich eigentlich dankbar sein, dass er mir vorführt, wie man nicht sein darf.
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