Heute wäre ich beinahe überfahren worden. Mein Schutzengel war mir wohlgesonnen. Er ließ mich mit gründlich aufgeschürften Händen, mit einer Prellung am Knie und einer an der Hüfte davonkommen.
Mein Gott, ich bitte um ein bisschen Wärme. Besser glühen als frieren.
Fast Jeder denke ich, ist glücklich, wenn er sich selbst verwirklichen kann, ein Satz, der wahr ist, aber Fragen offenlässt. Woran erkennt man, dass man sich tatsächlich verwirklicht? Wie kann man das Reue- bzw. Schuldgefühl, das Glück verhindert, ausschalten? Ich bin glücklich, wenn ich in Ruhe Philosophiebücher lesen kann. Ich bin glücklich, wenn ich Theorien verfertige, mit meiner Umwelt dozierend verkehre, wie einer der fünfundzwanzigtausend Weisen. Wenn ich Raum habe, von einer exklusiven modernen Ausstattung umgeben bin, unberührte Natur um mich blüht, wenn ich Sport treibe, bin ich glücklich. Aber mich hiermit zufrieden zu geben, wäre ein Irrtum. Es kommt darauf an, das Evangelium zu verwirklichen. Wo aber soll Liebe einen Ansatzpunkt finden? Sie ist nur möglich in Gemeinschaft. Deshalb ist es notwendig, die Welt und den Platz, den man in ihr einnimmt, zu erkennen, zu bejahen, um sich dann selbstvergessen in die Welt einzubringen. Ein schweres Gebot hat Gott der Welt aufgegeben. Wie schwer fällt es mir, mich von meinem Standort am Rande los zu reißen. Wie sehr bin ich mit meiner exklusiven Einsamkeit verwachsen. Zudem bin ich inkonsequent. Zwar will ich nicht abhängig sein, verlange aber, dass meine Umwelt von mir abhängig wird, was man als Größenwahn ansehen könnte. Aus meinem Dilemma gibt es nur einen Weg: Gott in mich einlassen. Dieser Weg ist steil. Es fällt mir schwer, mich aufzuraffen. Aber es gibt keinen anderen Weg. Ich muss auf die Gnade vertrauen.
Mit jedem Gedanken betrügen wir uns selbst, Zeichen dafür, dass wir von Gott weit entfernt sind.
Wieder ist ein Tag vergangen, die Sonne untergetaucht, die Nacht heraufgezogen. Gott, ich danke Dir für diesen Tag, für alles was mir gegeben und genommen wurde. Ich lege diesen Tag in deine Hand. Es war ein guter Tag, der erste der Ferien, der Freiheit. Er hat mir eine Erkenntnis gebracht. Alle Liebe, die in mir brachliegt, kann ich auswerfen wie eine Fangleine, und alle Liebe die ich verschenkt habe, holt mich zu Dir. Ich bin nicht in die Welt geworfen, sondern sorgsam gebettet. Mir braucht nicht bange zu sein, denn Du bist immer in der Nähe. Eine Tür hat sich geöffnet. Leben drängt herein wie ein Schwall Wasser und schwemmt mich heraus aus meiner Verkrustung. Hilf mir, mich ganz zu lösen, von vorn anzufangen. Jeden Tag werden die Spielsteine neu verteilt. Hilf mir in Deiner Gnade, dass ich meine nicht töricht verspiele.
Hoffen und Verzagen liegen im Streit. Feigheit und Mut kämpfen gegeneinander. Wer wird siegen, der ich bin, oder der ich sein will? Morgen werde ich es erfahren. Einen Fortschritt brachte der heutige Tag, ich war heute weniger abhängig von den äußeren Umständen, aber noch gelingt es mir nicht, mich ungezwungen zu bewegen unabhängig von den Umständen. Ich muss mich wieder daran gewöhnen, den Alltag, das Alltägliche nicht zu gering zu schätzen, sondern es zu achten als Ort der Prüfung, den Ort an dem umgesetzt wird, was ich mir im Vorgriff ausgemalt habe. Versuchen wir zu resümieren, was sich heute zugetragen hat.
Ich lag am Strand der „Grünen Adria“, dem schönsten Baggersee in dieser Gegend, und las, oder besser gesagt, versuchte zu lesen. Immer wieder wurde ich von meiner Umgebung abgelenkt. Blau spannte sich der Himmel über mir aus. Die Menschen um mich herum summten und brummten und schwärmten durcheinander wie eifrige Bienen. Nicht weit von mir saß ein Mädchen mit ihrer Mutter. Ich kenne das Mädchen. Auf dem Tanztee des Freitagkurses habe ich mit ihr getanzt. Ihr Tanzstundenherr war auch nicht weit, genauso wie zwei Jungen, von denen ich nur einen kannte. Ich lag also da und versuchte in die Philosophie Ortega y Gasset’s Eingang zu finden. Von Zeit zu Zeit schielte ich in Richtung Osten und überlegte, ob ich das Wesen, das in dieser Richtung saß, grüßen sollte. Mit diesem schwerwiegenden Gedanken verging mir die Zeit. Ich überdachte meine Stellung in der Welt und schwang mich auf in die Höhe. Und genau hier lag der Fehler. Ich hätte mich den Leuten, die ich doch kannte, anschließen sollen, anstatt sie aus der Ferne zu beobachten. Ich war ein Idiot. Ich blieb in mir verschlossen wie ein ausreifender Falter in seiner Puppenhülle. Als die Sonne sank, war ich immer noch allein, von der Sehnsucht nach dem einen Mädchen gefangen, das ich mir einbilde zu lieben. Suchend und doch ruhig fuhr ich per Rad heim, durstig und zum Zerreißen gespannt, bis ich wie ein Schiffbrüchiger wieder festes Land betrat, nach Hause kam und die Welt abschütteln konnte.
Morgen kann alles anders werden, besser. Das Heute ist vorbeigeschwirrt wie ein Schwarm Fledermäuse. Das Morgen wartet, steht offen, bereit sich erobern zu lassen, wenn einer es fassen und beherrschen will.
„Traurig froh wie das Herz, wenn es sich selbst zu schön liebend unterzugehen, in die Fluten der Zeit sich wirft.“
Wie schnell doch so ein Tag vorbeigeht. Kaum ist man richtig wach, kaum wird man sich seiner voll bewusst, ist er schon wieder vergangen. Man kommt nicht dazu, die Eindrücke, von denen man überfallen wird, zu verarbeiten oder gar zu behalten. Wir leben zu schnell. Dieses Leben, in das ich mich allmählich wieder einmische, reißt mich fort wie ein Strudel. Ich habe nichts, um mich festzuhalten. Ich laufe Gefahr zu ertrinken, und das gerade, weil ich versuche loszukommen, von dem, was mich festhält.
So fühle ich mich, genauso wie es Hölderlin in diesen Versen unübertreffbar zum Ausdruck bringt.
Heute habe ich mit Dorothe telefoniert. Wie nicht anders zu erwarten, habe ich mich nicht sonderlich geschickt angestellt. Immerhin, sie schien mir wohlgesonnen. Nun in guter Hoffnung für die Zukunft kann ich mich getrost ein Stück von ihr entfernen, vorsichtig freilich und die aufgetrennte Nahtstelle offenhaltend, damit sie sich nach den Ferien aufs Neue schließen kann, aber dann besser und sicherer. Liebe ich an Dorothe, was ich in sie hineinprojiziert habe? Wenigstens kommen mir Zweifel, ob sie wirklich ist, was sie mir scheint. Habe ich nicht vielleicht für mein ungestilltes Verlangen ein Becken gesucht, in das ich es ausschütten konnte, um mich dann in meinem eigenen Bild wieder zu finden? Habe ich mich in die scheinbare Tiefe hineingeträumt? Dorothes Abiturientenfreund hat doch erhebliche Zweifel an ihrem Charakter wachgerufen.
Anmerkung: Die Pubertät auf ihrem Höhepunkt!
Mich beschäftigen zwei weitere Fragen. Warum werden meine Schwester und ihr Freund Tobias sofort aggressiv, wenn ich zu leben anfange, wenn ich mich auch nur ein klein wenig öffne. Sie scheinen beide irritiert, verunsichert, sogar neidisch, wenn ich versuche, Kontakt zu ihnen herzustellen, mich auf die gleiche Stufe wie sie zu stellen.
Das zweite Problem, stellt sich dar, wie folgt: Ich habe ein Bedürfnis, mich im Erleben der Natur zu verlieren, oder im Zauber einer Nacht, im Reiz eines Sonnenuntergangs. Ich möchte diese Bezauberung in meiner Fantasie wiederholen, oder in meiner Fantasie neu erschaffen. Ist das Flucht vor der Wirklichkeit, Flucht in eine Traumwelt oder der Wunsch, in die Wirklichkeit einzutauchen?
Was ich schreibe, kommt mir nicht logisch vor!
Die Zeit schießt vorbei, reißt uns mit, spuckt uns wieder aus in die Nacht, um uns am Morgen erneut mit sich fortzureißen. Wir saugen Leben ein. Wie Kinder hängen wir an der Brust der großen Mutter, die uns in ihrem Arm hält, und trinken in vollen Zügen die Milch des Lebens. Wir laufen auf den grünen Wiesen, reißen die Blüten aus, die wir besitzen wollen und sehen sie dann unter unseren Händen dahinwelken. Wir trauern um die Blumen, die wir zerstört haben, weil wir uns nicht damit zufriedengeben wollten, uns von ihrem Duft betören zu lassen. Doch schon erscheint eine neue Prinzessin, und wir lassen das welke Laub achtlos aus unseren Fingern gleiten. Aber warum zerstören?
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