Erschienen 2019
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Druck und Bindung epubli
(Holzbrinck Digital Content Group)
Printed in Germany
Splitter
oder Lehrjahre des Schülers Thorsten
Diese Aufzeichnungen, niedergelegt in einem Notizbuch, einem Poesiealbum und zwei Ringbüchern, nannte der Verfasser, mein verstorbener Großvater, sein „Buch“. Sie umspannen einen Zeitraum von siebzehn Jahren und stellen eine chronologische Mischung aus Tagebuch, Kopfkissenbuch und Poesiealbum dar. Ich habe dieses „Buch“ im Nachlass meiner Großmutter, die meinen Großvater überlebte, gefunden. Die Einträge sind durchnummeriert. Eine Reihe von Einträgen fehlt. Ich nehme an, dass mein Großvater, vielleicht auch meine Großmutter, die entsprechenden Seiten aus unterschiedlichen Gründen vernichtet haben. Ich habe lange überlegt, ob ich die Texte nicht komplett entsorgen sollte, habe mich aber doch dagegen entschieden. Mein Großvater hätte sie sicher selbst vernichtet, wenn er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass seine Kinder und Enkelkinder in diesem Buch blättern.
Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität. Sie zeigen aber eine deutliche Entwicklung vom pubertierenden Sechszehnjährigen zum erwachsenen Mann.
Sie belegen eine schrittweise Emanzipation von starren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen, ein Reifen der Liebesfähigkeit und ein Überwinden persönlicher Fehlhaltungen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Mein Großvater hat es sich nicht leicht gemacht, aber er war lernfähig.
Im Jahr der Ratte (A)
Ein leeres Buch (1)
Was soll ich mit dir anfangen. Soll ich eine Zitatensammlung anlegen oder ein Haushaltsbuch mit Einnahmen und Ausgaben, oder etwa gar ein Tagebuch? Ein Tagebuch jedenfalls brauche ich nicht, denn an Ereignisse erinnere ich mich für gewöhnlich recht gut, und den Rest vergesse ich lieber. Was die Geschehnisse auslösen, Gefühle, Stimmungen, Vorsätze, das kommt mir leicht abhanden. Dazu könnte ich mir mal Notizen machen.
Das Dumme ist: Die Sätze, die ich mir abpresse, kommen mir vor wie Ramsch, wie billige Konfektionsware im Schlussverkauf.
Ich könnte natürlich üben für Gespräche mit Dorothe, meiner Freundin für drei Sommer, die nach einer langen Unterbrechung, einer Pause von drei Jahren, genau wie wir es verabredet hatten, rechtzeitig zur Tanzstunde wieder in mein Leben eingetreten ist. Nach der ersten noch ziemlich holprigen Kontaktaufnahme sind wir uns rasch wieder nähergekommen, aber unser Verhältnis wurde bald kompliziert.
Bis zur Wiederbelebung unserer Freundschaft glaubte ich zu wissen, wer ich war und kam ganz gut zurecht. Jetzt stecke ich in einer pubertären Krise. Nach außen gebe ich mich gelassen, ausgeglichen, aber drinnen geht es schon mal zu wie auf der Achterbahn.
Laufen wir uns warm, mit ein paar Zitaten:
„Herr, ich werde heute sehr beschäftigt sein. Es ist möglich, dass ich dich vergesse, aber vergiss du mich nich t.“ (Sir Jacob Astley, Gebet vor der Schlacht von Edgehill 1642, zitiert in Sir Philip Warwick, Memoires, 1701). „Angst hat noch keine Brücke gebaut, keinen Kampf gewonnen, kein Problem gelöst“ (Sir Astley). „Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als die Finsternis zu verdammen.“ (Sir Astley). Jacob Astley (1579 bis Februar 1652) war ein royalistischer Kommandant im englischen Bürgerkrieg. Anmerkung: Keine Ahnung, wo ich diese Zitate herhabe! Aber auf in den Kampf!
Automatisches Schreiben (3)
Es ist also beschlossen. Ich werde mich an diesem Buch versuchen. Dabei nehme ich mir vor, „automatisch“ zu schreiben, also ohne nachzudenken. Mal sehen, was dabei herumkommt!
Ideale und Selbstkontrolle (4)
Heute habe ich eine seit Freitag andauernde Missstimmung überwunden, endlich. Es macht mich schon ungehalten, wenn ich mich überwinden muss, etwas Vernünftiges anzufangen.
Ein erfülltes, mindestens aber ausgefülltes Leben braucht so etwas wie Ideale, eine Vorstellung, was sein sollte. Allerdings sind Ideale ihrer Natur nach unerreichbar. Aber wenn sie schon nicht erreichbar sind, wie kann man ihnen wenigstens nahekommen?
Ich denke in erster Linie durch Selbstkontrolle. Wir müssen begreifen, was wir in der Vergangenheit falsch gemacht habe. Wir sollten auch wissen, was andere über uns denken. Zu diesem Zweck müssen wir beobachten, so als wären wir zweimal vorhanden, als wenn wir uns kritisieren von einem Standpunkt außerhalb unserer Person. Wir können uns dies leichter machen, indem wir darauf achten, wie wir auf unsere Umgebung wirken.
Jeder ist umgeben von einem Feld. Dieses Feld wird geformt durch Glauben, Wünsche, innere Haltung. Es zeigt sich in der Bewegung, im Gesichtsausdruck, im ganzen Körper. Stellt man Kontakt zu einem anderen Menschen her, so beeinflusst man dessen Feld, verändert damit seine Ausstrahlung und ebenso wird unser Feld durch den Kontakt modifiziert. Dies zeigt sich in kleinen Veränderungen der Bewegung, der Mimik und so weiter. Wir können die Menschen, die uns umgeben und uns selbst, als Reflektoren auffassen.
Diese Art der Selbstbeobachtung, verbunden mit unermüdlicher Gewissenserforschung, ist angebracht, aber man darf die Fehler, die man dabei an sich selber entdeckt, nicht zu schwer nehmen, denn sonst wird man gehemmt und zieht sich aus Angst, etwas falsch zu machen in sich selbst zurück.
Anmerkung: Diese unglückliche Auffassung ist mich teuer zu stehen gekommen!
[Abschnitte 6 und 7 fehlen]
….Ich kann zärtlich flüstern in die gedämpfte Musik hinein und das undeutliche Murmeln. Illusion! Traum! Spuk! Nur die Wirklichkeit zählt!
Ene me ne mu und wer bist du? (8)
Wir sind einsam mit uns selbst, in die Welt hineingeraten (wie auch immer) und fremd in ihr. Gefühle drängen in Wellen heran, aber sie rollen ab, ohne auf Widerstand zu treffen. Rätsel der Existenz! Wer oder was sind wir? Wer ist dieses ICH? Warum sind wir? Warum sind wir so, wie wir sind und nicht ganz anders? Der Mensch scheint zwei Pole zu haben. Manchmal habe ich das Gefühl, nur in dem wirklich vorhanden zu sein, der außerhalb meiner selbst existiert (merkwürdige Idee!). Dann möchte ich glauben, einen schlechten Film anzuschauen, der vor mir abläuft, ohne dass ich mit dem Hauptdarsteller in Kontakt treten kann, um ihn aus seiner Mittelmäßigkeit herauszuholen.
Ich bin neugierig auf das Unvermeidliche, den Tod. Wo werde ich aufschlagen? In einem Himmel? Oder werde ich vom Regen in die Traufe kommen? Eine Hölle kann ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.
Wer wird hinter meinem Sarg hergehen und trauern, wenn man ihn in der Erde versenkt? Werde ich etwas hinterlassen, das für eine Weile erinnert wird? Ich bin sehr neugierig auf die Zukunft, wobei der Tod auch unvermeidbare Zukunft ist.
Irgendwie fühle ich mich unvollständig, als wäre bei mir etwas vergessen, oder ein Teil von mir abgeschnitten worden. Müdigkeit, Schlaf, schlafen können: Es bleibt die Hoffnung.
Interessante Zeiten, interessante Aspekte! Veränderungen zeichnen sich ab. Es sollte mich nicht wundern, nach allem, was mir in letzter Zeit widerfahren ist. Zuerst wäre der Tod von Großvater zu nennen. Er hat mir meine Einstellung zum Sterben deutlich gemacht. Fragt sich, ob diese Haltung ein Minus oder ein Plus auf dem Zeugnis darstellt, das man mir anlässlich meines Todes ausstellen wird?
Anmerkung: Das Leben ist eine Schule, aber Zeugnisse gibt es nicht.
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