Mir ist der Tod denkbar gleichgültig, erschreckend gleichgültig. Mit den Toten fühle ich mich gleichermaßen verbunden wie mit den Lebenden. Mir ist, als ob die Toten noch gegenwärtig sind, vielleicht vorausgereist.
Bin ich schlecht oder gut? Ich weiß es nicht. Werde ich es dahin bringen, wohin ich es bringen möchte? Kaum! Ich bin zusammengesetzt aus Fragwürdigkeit und komme mir lächerlich vor. Überhaupt kommt mir heute so ziemlich alles lächerlich vor, ein schlechtes Zeichen.
Lassen wir die Selbstbespiegelung hinter uns und kommen zum zweiten Punkt: Fräulein Dorothe Wolfrath, Salz und Pfeffer meiner Kindheit, Stachelbeere meiner pubertären Jugend. Ich habe lange geglaubt, ja gehofft, sie wäre meine Vergangenheit, und jetzt hoffe ich tatsächlich, dass sie meine Zukunft wird. Der Verstand sagt „Nein, das wird nichts“, aber die anderen Organe behaupten „Sie ist dein Schicksal“. „Sie ist die Frau deiner Träume (und deiner Albträume). Und das, jemanden genau wie sie, hast du dir gewünscht.“ „Selber schuld“, sagen die höheren Mächte.
Was mache ich nun, nachdem ich auf sie schon wieder abgefahren bin und sie heftig begehre, was sie genau weiß, obwohl ich mir sogar verweigere, ihre Hand zu halten? Am besten gar nichts, denn was ich auch anstelle, es ist falsch.
Man ist nicht so, wie man gerade zufällig ist, sondern so, wie man sein will. Also will ich besser sein. Es wird Zeit, dass ich mich ertüchtige und diesen Sündenfall, Dorothe, erstmal hintanstelle.
Anmerkung: Ehrlicher gesagt Glücksfall!
Ich sollte mal anfangen zu leben, ganz einfach und selbstverständlich, mit anderen, nicht gegen sie. Hinein ins Getümmel, die Leute auch mal überraschen. Etwas Wichtiges hätte ich beinah vergessen: Träumen ist ab sofort zu stoppen!
Mon Dieu du Tagebuch, bis ich dich heute gefunden habe. Eine gute dreiviertel Stunde lang habe ich dich suchen müssen. Das kommt davon, wenn man seine Sachen zu gut versteckt.
Heute wäre beinahe ein ganz dummer Tag gewesen, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, einen meiner Hauptfehler aufzudecken. Ich bin zu empfänglich für alles, was meine fünf Sinne aufnehmen.
Auch wenn ich mich nur mühsam abfinde mit dieser Umwelt, so wünsche ich doch etwas Beifall. Ich möchte ein bisschen bewundert werden, gerade weil ich nicht bewundernswert bin.
Ab morgen werde ich mich nicht mehr darum kümmern, was die anderen von mir denken, ob ich ihren Gefallen finde. Ich werde für mich leben und für Gott. Geben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, das muss ich allmählich lernen, muss endlich ernst machen mit meinem Christentum, das ich mir umgehängt habe wie ein biederes Mäntelchen!
Heute Abend habe ich eine Sternschnuppe gesehen, ein weißes Stück Glut, das vom Himmel herabfiel, verlosch und Nacht zurückließ. Meine Gedanken sind wie Sternschnuppen oder Kometen. Einer dieser Kometen kreist um das Mädchen, das meine Freundin sein sollte und vielleicht ist. Ich weiß nicht warum, doch komme ich von ihr einfach nicht los, bin an sie angekettet.
Mitternacht ist vorbei. Bald wird sich ein neuer Morgen ankündigen. In rötlichem Schein wird die Sonne aufsteigen, ihre warmen Strahlen aussenden, um die taunasse Erde zu trocknen, die Glieder zu lösen. Morgen wie an jedem Tag wird alles neu.
Anmerkung: Der Weg zu uns selber ist steinig. Zu gern sehen wir uns besser, als wir sind. Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist dürftiger Abklatsch fremder Gedanken, Gedanken die schon andere vor mir hatten. Schade!
Heute war kein schlechter Tag, habe recht ordentlich gearbeitet, war nur wenig abgelenkt und habe keiner Versuchung nachgegeben.
Zum Problem der Selbstbefriedigung: Allmählich habe ich gelernt, wie man sie ausführt. Doch laufe ich nun ständig Gefahr, der Versuchung nachzugeben, mich in Spannung zu versetzen, bis der Erguss erfolgt. Ich mache das ganz raffiniert, rede mir ein, ich wolle ja nur einen Reiz bis nahe vor den Erguss, um die dabei eintretende Spannung zu genießen, doch ist es mir noch nicht gelungen, den Vorgang wieder abzustoppen. Ich sollte ihn deshalb künftig erst gar nicht mehr in Gang setzen, wenn mir auch nicht klar ist, was an der Sache sündhaft sein soll.
Die gestrige Erkenntnis beginnt, ihre Früchte zu tragen, schneller als ich dachte. Eine leise Angst vor der Zukunft hat sich in mir eingenistet. Sie muss schleunigst abgestellt werden. Ein jeder Tag hat für sich Plage genug.
Was mir noch nicht gelingt, ist zu lieben, ohne einschränkende Bedingungen daran zu knüpfen. Allmählich muss ich auch die kindliche Wunschvorstellung ablegen, mich zu etwas Besonderem ausformen zu können.
Das ist ein seltsamer Tag heute. Ich fühle mich gleichzeitig schwach und stark. Ich habe gesündigt mit Absicht, um meinen freien Willen zu demonstrieren. Das war ein Fehler. Dabei ist der Wille doch alles. Man muss alles ausblenden, außer dem, was man wirklich erreichen will. Ich will etwas erreichen. Aber: Will ich das Richtige erreichen? Und was muss geschehen, damit ich es erreiche? In erster Linie: kein Selbstzweifel. Ich bin, was ich bin, und ich werde aus dem, was mir von Gott gegeben wurde, schon noch etwas Brauchbares machen.
Heute habe ich mich im Spiegel gesehen, und ich bekam fast Angst vor mir, und ich wollte diese Angst. Denn heute fühle ich mich stark. Was mir nur noch fehlt, das ist Gott. Ich bin sehr weit von ihm entfernt. Mein Gott, ich bitte dich, gib mir das Vertrauen, an deine Hilfe zu glauben.
Heute bin ich wieder einmal so weit, dass ich über mich lachen möchte, schallend lachen und herumtoben nach Herzenslust, mich auslaufen in dem Park dieser Welt bis zur Erschöpfung. Man könnte meinen, ich sei glücklich, erfüllt von meinem Glück, und es scheint tatsächlich der Fall. Dabei fühlte ich mich noch vor einer halben Stunde todtraurig, bedauerte mich selbst und klagte: Ich bin eben nicht zum Glücklichsein geschaffen, bin immer unzufrieden mit mir. Eine neue Weisheit ist mir inzwischen aufgegangen. Glück und Unzufriedenheit widersprechen einander nicht. Sie können eine Verbindung miteinander eingehen. Das Einzige was mir jetzt noch kompliziert erscheint, ist zu dieser Verbindung als drittes Instrument konzentriertes Arbeiten hinzuzufügen. Dann wäre es ein harmonisches Zusammenspiel.
Heute muss ich mich alt fühlen, alt und weise, muss vernünftig reden, mich an den Diskussionen beteiligen, und im Kopf behalten, dass ich etwas Besonderes in mir trage, auch wenn ich nicht weiß, was das sein soll. Ich hätte aber sonst kaum Dorothes Zuneigung gewonnen. Auch bei anderen Frauen hätte ich sonst kaum Erfolg gehabt. Und immerhin bin ich Obergruppenführer bei den Pfadfindern, Redakteur unserer Schülerzeitung, unter den Klassenbesten. Kein Grund also, sich zu verstecken.
Anscheinend hat es mich ernsthaft gepackt. Dorothe geht mir nicht aus dem Sinn. Hundertmal möchte ich ihren Namen schreiben. Schade nur, dass ich mich immer so leicht verletzt fühle, und es nicht fertigbringe, meine Gefühle offenzulegen. Aber: mit meinem Gott springe ich über alle Mauern.
Ich konnte nicht einschlafen (Halsweh). Also holte ich die Taschenlampe, um meinen Rachen zu inspizieren. Dabei entdeckte ich ganz raffinierte Möglichkeiten, mein Gesicht zu beleuchten, sodass ich fast Angst vor meinem Gegenüber im Spiegel bekam.
Warum hat dieser komische Gott mich so dämlich erschaffen? Fragen ohne Antwort. Trotz des Einsamen. Dieser Kerl muss lernen, Subjekt zu werden, anstatt sich als Objekt gegenüber zu stehen. Vor mir selber stehe ich als Mauer, die sich den Weg versperrt.
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