Liebe Dorothe,
Wie gefällt dir Venedig? Es ist eine wunderbare Stadt, nicht wahr? Vor allem in der Kühle der Nacht. Am Tag wird das Bild durch lärmendes Geschrei, durch alberne Touristen, zu denen man leider selbst gehört, getrübt. Aller Schmutz wird sichtbar, alle Unvollkommenheit, aller Zerfall. Die Nacht verschmilzt alles zu einer geheimnisvollen Einheit. Die Menschen dämpfen ihre Stimme, sprechen nur noch leise. Ein feines Sirren schwirrt durch die Straßen. Die Gesichter erstrahlen, wenn sie den Lichtkreis einer Lampe betreten. Der Himmel ist dunkel. Unermesslich weit entfernt ahnt man das Glitzern von Sternen. Weich und angenehm kühl wird man von der Abendbrise umspielt, als ob man von unsichtbaren Geistern umschwebt wird. Man sitzt an einem der kleinen Tische eines Cafés am Ufer eines Kanals, spürt wie das Wasser die Mauern umspült. Man scherzt und lauscht dem Geplapper der Leute. Unbeschwert schlendert man dann durch die nächtlichen Straßen, die gefüllt sind mit glücklichen Menschen. In einem der kleinen Geschäfte kauft man ein paar Süßigkeiten, lässt sie gedankenvoll im Mund zergehen, lässt sich gefangen nehmen von dem Glück, das in der Luft liegt. Hinter den Fenstern der Palazzi leuchtet kostbares Glas tiefrot, kunstvoll mit Silber oder Gold verziert, leuchten Karaffen und Becher in geschwungenen Formen. Man fühlt sich reich, verwöhnt und zufrieden. In einer eleganten Gondel gleitet man durch verschwiegene Kanäle, in denen das Wasser verhalten plätschert. Weiter fährt man auf den großen Kanälen, die auch jetzt noch belebt sind, vorbei an beleuchteten Palästen und Gärten angestrahlt von grünem Licht. Und man vergisst die Zeit.
Doch was erzähle ich dir von Venedig, das du besser kennst als ich. Da trage ich doch Eulen nach Athen oder Senf nach Kronstadt. Mein Gott, wie wir alten Leute doch dem Laster der Geschwätzigkeit frönen, um mit Shakespeare zu sprechen.
Anmerkung: Brief nicht abgeschickt!
Von Tag zu Tag werde ich müder und fauler. Es ist zum Haare ausraufen. Hoffentlich kann ich heute Nacht richtig schlafen.
Es ist ein Kreuz, wenn man sich mit einem Idioten wie mir abplagen muss. Nichts als Ärger hat man. Zum Teufel mit dem Kerl, allerdings nicht mit dem ganzen Burschen, sondern nur mit seinem schlechteren Ich: träge, schwach, schlapp, dumm, unbeholfen, das kann man diesen Wicht schelten. Warum bringt es dieses Ei nicht fertig, in dieser blödsinnigsten aller Welten genauso zu leben, wie alle anderen normalen und vernünftigen Menschen. Der Kerl möchte alles sein, nur nicht der, der er werden soll. Darin liegt das ganze Unglück. Wenn ich Gott verzweifelt brauche, schreie ich nach ihm. Ist er dann plötzlich da, halte ich ihn nicht, sondern ziehe mich trotzig in mich selbst zurück, in dem Irrglauben, auch ohne ihn auszukommen. Ohne Gott geht aber alles daneben. Nicht einmal richtig sprechen kann ich dann noch. Ich verhaspele mich. Kein vernünftiger Satz kommt mehr über meine Lippen. Verzeih mir guter Gott, dass ich immer wieder meine, ohne dich auszukommen. Wann werde ich endlich einsehen, dass ich wenig mehr als eine Ameise bin unter Milliarden anderer Ameisen, dass mich nichts auszeichnet, nichts Großartiges in mir liegt. Ist das Resignation? Vielleicht, aber besser eine rostige Konservendose sein, durchlöchert und verbogen auf dem Müllhaufen, als ein Rauchkringel, der ausgespuckt wird und sich in Luft auflöst. So und jetzt Schluss! Wach auf du alberner Trottel. Es wird Zeit!
Gott, ich liebe deine Welt, ich liebe sie mit jeder Faser. Mit jedem Atemzug sauge ich sie ein. Hastig ziehe ich sie in meine Lungen ein. Wie ein ausgetrockneter Schwamm tauche ich in die Welt ein, um mit kühlem Wasser voll und schwer zu werden. Nur eins stört mich an dieser Welt, ein Schmutzfleck, den ich ausbürsten möchte, nämlich mich. Mit allem kann ich mich abfinden, außer mit diesem komischen Wesen, das ganz willkürlich meinen Namen trägt. Vielleicht kann ich dieses Geschöpf doch ändern. Vielleicht brauche ich es nicht hinzunehmen. Kann ich es modellieren wie Ton? Kann ich es zurechtmeißeln, wie ein Bildhauer sein Werkstück meißelt? Wenigsten kann ich mir das einbilden. Wie werde ich in zehn Jahren sein, in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren, vorausgesetzt ich bin dann noch am Leben? Werde ich meinem Ideal nähergekommen sein?
Manchmal fürchte ich den Dämon, der in mir sitzt, der mir den Mund verschließt und meine Glieder lähmt, der in mein Gehirn Nadeln stößt. Wie ein Soldat komme ich mir vor, der einem Sonderkommando zugeteilt wurde und nun trotzig, mit zusammengebissenen Lippen in den Kampf geht, die Gefahr vor Augen. Mein einziger Trost ist Jesus, der am Kreuz stöhnt und stirbt und dennoch obsiegt und alle in seine ausgebreiteten Arme zieht.
Ruhelos streift er auf und ab, saugt Luft in die Lunge. Durch Gestrüpp und Dickicht möchte er jagen, aber für heute ist es zu spät. Sein Körper klebt am Boden fest. Er ist zu schwer.
Anmerkung: Die Sommerferien verbrachte er in Soréze, in einem Dominikanerkloster mit Internat in der Nähe der „Gorges du Tarn.“
Nacht in Sorèze, heiß und schwül, dunkel und tief. Kalt funkeln die Sterne am schwarzseidenen Himmel, und die Welt wird klein. Ich liebe die Nacht, und gestern habe ich sie ausgekostet. Es war zu heiß, um zu schlafen. Also verließ ich meine Kabine und setzte mich in den offenen Fensterrahmen im Gang. Das Bild, das ich von dort vor Augen hatte, war zu schön, um es mit meinen unbeholfenen Worten wiederzugeben. Im von dunklen Mauern umschlossenen Hof rauschten die Blätter der Bäume. Der Klosterturm schwer und breit, vom Licht getroffen, stand unbewegt wie erstarrt. Sternschnuppen fielen, glühten auf, erloschen und schnitten für einen Moment eine goldene Spur in den Himmel, der ganz nahe schien. Die Welt schrumpfte, und ich löste mich auf im Dröhnen der Glocken.
In wenigen Tagen werde ich zurück in Kronstadt sein, wieder in meinem Zimmer lernen und schlafen, wieder die gleichen Sorgen und Kämpfe vor mir haben wie vor sechs Wochen. Vielleicht wird sich doch einiges ändern, falls ich mich verändert habe. Und schließlich öffnet jeder Neuanfang Möglichkeiten und Chancen. Ich habe mir wie gewohnt viel (wahrscheinlich zu viel) vorgenommen.
Um Dorothe muss ich mich mehr und sinnvoller kümmern, vor allem aber meine Befangenheit ihr gegenüber ablegen. Ich kann mit ihr Schwimmen gehen, Tanzen, Eis essen, Bowling spielen, Minigolf spielen, ins Kino gehen, ins Theater oder in Vorträge. Wir können spazieren und bummeln gehen. Schließlich kann ich sie auch von Zeit zu Zeit von der Schule abholen oder von der Klavierstunde.
Nicht vergessen: täglich Geige üben!
Es bleiben noch zwei besonders wichtige Punkte: Schülerzeitung und Gruppe. Ich sollte versuchen, die anderen für meine Ideen zu gewinnen. Gott muss wieder zum Mittelpunkt meines Lebens hingerückt werden.
Die letzten Stunden, die ich hier in Sorèze verbringe, geeignet, um einen kurzen Rückblick auf die letzten sechs Wochen, die ich hier mehr oder weniger gelungen, verbracht habe, zu Papier zu bringen. Ärger steigt in mir hoch, wenn ich mir vor Augen führe, was ich in dieser Zeit alles eingebüßt habe: meine Anzughose, ein weißes Nylonhemd, meine Geldbörse mit Rückfahrkarte Sorèze – Köln und Köln bis Rosenheim, etwa sechzig Franc plus zwanzig Mark, die Adresse meiner neuen Freundin aus Chartres, meinen-Kalender, meinen Brustbeutel. Zu unguter Letzt ist meine Armbanduhr defekt. Es ist zum Schwarzwerden.
Doch was hilft es, Vergangenem nachzutrauern. Besser den Blick auf die Zukunft richten, auch wenn die strahlende Sonne die Augen blendet, und in das stille Meer zu unseren Füßen eintauchen. Eine große schwere Zeit zieht herauf, ich aber fühle mich schwach und unbeholfen. Wann werde ich Menschen finden, mit denen zusammen zu sein, freudiges Erlebnis und erhebende Befriedigung sein wird?
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