„Uris wird ihn längst getötet oder zumindest gesichert haben“, entgegnete Lukdan und wollte sich auf den Weg machen, hielt dann aber inne, da er anscheinend nicht wusste, in welche Richtung er gehen sollte.
„Wohin sollte euch eure Flucht vorgestern eigentlich bringen, wenn ich euch nicht aufgehalten hätte?“, fragte er.
„Nach Syphora“, antwortete Tado. Der Krieger aus Akhoum drehte sich entsetzt um.
„Ihr wolltet dem Feind direkt in die Arme laufen? Seid ihr etwa doch Spione?“
„Nein“, versuchte Yala zu beschwichtigen. „Wir haben einige Fragen und diese lassen sich nur dort beantworten.“
„Du musst nicht mit uns kommen“, steuerte Tado bei.
„Was habe ich denn für eine Wahl?“, meinte Lukdan resigniert. „Nach Akhoum kann ich nicht zurück, ohne sofort getötet zu werden, und alle Länder im Hoheitsgebiet der Stadt werden schon bald unter Uris’ Kontrolle sein. Dort ist es dann auch nicht mehr sicher. Allerdings liegt Syphora im äußersten Osten und wir haben Akhoum in westlicher Richtung verlassen.“
„Ja; wir wollten zuerst nach Aldostris, um von dort aus Akhoum in einem großen Bogen in nördlicher Richtung zu umgehen“, erwiderte Yala.
„Aldostris gehört zum Hoheitsgebiet. Sie werden schon bald Nachricht aus Akhoum erhalten und uns vermutlich gefangen nehmen“, gab Lukdan zu bedenken. „Andererseits könnten wir sie warnen, wenn wir rechtzeitig dort auftauchen.“
So beschlossen sie, zunächst den Weg in westlicher Richtung weiterzugehen, um die kleine Stadt Aldostris zu erreichen. Die Sonne stand hoch am Himmel, hatte ihren Zenit jedoch bereits überschritten.
Yala sah Tado eine Zeitlang an.
„Was ist?“, fragte dieser schließlich.
„Ich habe mich nur gefragt, ob du mir nicht endlich sagen willst, wie du dein Schwert immer wieder erscheinen lassen kannst“, antwortete sie.
„Es ist nichts weiter als ein einfacher Zauber“, entgegnete er schließlich, denn er verspürte im Moment keine Lust dazu, ihr das gesamte von Regan erlernte Ritual zu erläutern.
„Also bist du ein Magier?“, fragte sie weiter.
„Nein, ich beherrsche keine Art von Magie“, erwiderte er, wusste aber, dass diese Antwort nur noch mehr Unklarheiten aufwerfen würde. Bevor Yala also erneut nachhaken konnte, sprach er weiter: „Mein Schwert selbst ist aber ein magischer Gegenstand, und unter der Anleitung eines mäßig magiebegabten Goblins war es mir möglich, die Waffe an mich zu binden, sodass ich sie jederzeit beschwören und verschwinden lassen kann.“
Danach gingen sie überwiegend schweigend weiter. Ein schwacher Wind wirbelte den bodennahen Staub auf. Tado schleppte sich nach einiger Zeit nur noch mühsam durch die glühende Hitze. Er hatte seit dem Morgen nichts mehr getrunken, und seine Kehle brannte jedes Mal, wenn er ein paar klägliche Speichelmengen hinunterschluckte. Nach einer Stunde schoben sich allmählich kleinere Wolkenfetzen vor die Sonne, vereinigten sich zu einer einzigen und warfen kühle Schatten auf die drei Wanderer. Sie kamen an einer Ansammlung von Dornpflaumen vorbei, als es merklich kühler wurde.
Die Dämmerung brach an und sie verließen das staubige Ödland und betraten eine niedrige Wiese. Der Himmel über ihnen war nun von einer gewaltigen Gewitterfront bedeckt und schwarze Wolken türmten sich zu unheimlichen Formen auf. Ein Gefühl der Gefahr stieg in Tado hoch. Ein kleiner Bach verlief südwestlich, doch sie hielten nicht an, denn der plötzliche Wetterumschwung beunruhigte sie.
„Der schwarze Himmel verheißt nichts Gutes“, ließ sich Lukdan vernehmen, doch das hatte sich auch Tado bereits gedacht. Sie steuerten einen nahegelegenen Hain an, eine Gruppierung von nur wenigen Dutzend Bäumen. Unter dem dichten Blätterdach fanden sie Schutz vor dem stärker werdenden Wind. Sie beobachteten den bedrohlichen Himmel aus dem Schutz des Dickichts heraus. Und plötzlich, nicht einmal fünfzehn Minuten Fußmarsch entfernt, begann die Wolkendecke zu rotieren. Wolkenfetzen verliefen kreisförmig um einen unsichtbaren Punkt herum. Staub und Dreck wurden aufgewirbelt. Ein Trichter formte sich aus dem finsteren Himmel und strebte den Boden an. Starker Wind fegte über die Wiese hinweg und ließ den kleinen Hain, in dem die drei Zuflucht suchten, erschüttern. Die rotierende Säule erreichte den Boden und eine Staubwolke schlug ihr entgegen, stob in alle Richtungen davon. Pflanzen wurden aus der Erde gerissen, Steine hinaufgeschleudert und wieder fallen gelassen, sodass sie in einiger Entfernung aufschlugen. Der graue Wolkentrichter bewegte sich gen Osten, und alles, was in seine Bahn geriet, ließ er verwüstet zurück.
„Was ist das?“, fragte Tado entsetzt. Er hatte nie zuvor ein solches Naturschauspiel erlebt.
„Ein Tornado“, erwiderte Lukdan. „Eine Naturkatastrophe mit großer Zerstörungskraft. Lasst uns schnell weiter in Richtung Aldostris gehen, ehe ein zweiter entsteht.“
Sie folgten diesem Rat, und so gelangten sie bald an den Rand der Wiese und marschierten wieder durch karges Ödland. In der Ferne, im letzten Gegenlicht der untergehenden Sonne, sahen sie die Umrisse einiger Gebäude.
So kamen sie an eine Gruppierung von drei Zelten, die den Rand einer sich nach Norden und Süden weitläufig erstreckenden Schlucht säumten.
„Das ist Aldostris?“, fragte Tado zweifelnd.
„Nein“, erwiderte Yala. „Das ist nur ein Wachposten, der den Zugang zu diesem Ort verwaltet.“
Ein halbes Dutzend Krieger kam, als sie in Sichtweite gelangten, mit gesenkten Speeren auf sie zu. Als sie Lukdan erkannten, ließen sie ihre Waffen sinken. Offenbar waren sie über den Zwischenfall in Akhoum noch nicht unterrichtet worden.
„Es ist lange her, dass du uns mal wieder mit einem Besuch beehrst“, sagte eine der Wachen.
„Leider führen mich keine erfreulichen Nachrichten in diese Gegend“, erwiderte Lukdan. „Wir müssen dringend mit Zokarp sprechen.“
„Ich befürchte, dass das nicht möglich sein wird. Er führte die Armee an, die Aldostris zur Verteidigung Akhoums schickte, und nun verwaltet Igaldar die Stadt.“
„Wenn das so ist, dann bring uns zu ihm. Wir können nicht bis morgen warten.“
Der Soldat führte sie an den Zelten vorbei an den Rand der Schlucht. Eine größtenteils aus Holz bestehende, etwa anderthalb Meter breite Hängebrücke spannte sich über den Abgrund. Sie folgten dem Krieger, der voranschritt und den Übergang mit unsicherem Zögern betrat, denn eine dunkle Wolke schob ihren Schatten über den im Dämmerlicht rötlich scheinenden Himmel. Regentropfen benetzten den Boden.
Die Schlucht war über einhundert Meter breit und Tado erstaunte es, wie die Bewohner Aldostris’ es geschafft hatten, eine Brücke über einen derart breiten Abgrund zu bauen. Aus den unerkennbaren Tiefen unter ihnen stieg grauer Nebel auf, sodass sie den Grund der Klamm nicht sehen konnten.
Er bemerkte, dass Yala irgendetwas beunruhigte und befragte sie danach.
„Es ist das Wetter“, antwortete sie nach kurzem Zögern. „Normalerweise regnet es hier selten, doch das ist nun schon das zweite Mal heute.“
Tado dachte an den kurzen Schauer am Morgen in Akhoum, nachdem der Regenbogen erschienen war.
„Und dann ist da noch dieser Tornado gewesen“, fuhr sie fort. „Ich lebe seit sieben Jahren hier und habe so etwas noch nie zuvor gesehen.“
Nur ungern dachte er an die unheimlich Erscheinung vor etwa einer Stunde zurück.
„Was meinst du, verbirgt sich hinter all diesen Sachen?“, fragte er sie.
„Möglicherweise ist das alles nur Zufall. Aber meist kündigen solche Unwetter großes Unheil an. Kurz bevor der Krieg zwischen Akhoum und Syphora ausbrach, herrschte drei Wochen lang ununterbrochen ein orkanartiger Wind.“
Tado hoffte, dass sie mit dieser Vermutung Unrecht behielt. Er wollte nicht in noch größere Schwierigkeiten hineingeraten als die, in denen er ohnehin schon steckte. Sie waren während ihres Gesprächs ein Stück zurückgefallen und beeilten sich, zu den anderen beiden aufzuschließen. Die Hängebrücke ächzte bedrohlich, aber sie hielt. Sie musste ohnehin sehr stabil sein, denn wenn dies der einzige Zugang zu Aldostris war, dann hatte die Armee, die Akhoum zu Hilfe eilte, sie ganz sicher auch überqueren müssen.
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