„Das ist die Glocke des Todes“, antwortete Lukdan einfach. „Sie wird geläutet, wenn ein Statthalter Akhoums gestorben ist. Ich habe sie bisher erst einmal vernommen, als nämlich vor etwas mehr als sieben Jahren der Vorgänger Heroduns einer schweren Krankheit erlag. Wenn der Klang jedoch ein zweites Mal erschallt, so ist ein Statthalter ermordet worden, und das Volk wird sich bereit dazu machen, die Verräter aufzuspüren. Niemand kommt dann mehr in die Stadt herein oder kann hinaus... Nun ja, das ist seit dem Krieg sowieso kaum noch möglich, dennoch werden nun alle Ausgänge endgültig verriegelt. Da man unsere Namen kennt, können wir niemandem in der Stadt mehr vertrauen, mein Gesicht zumindest ist zu bekannt, jeder würde uns sofort verraten.
Daher bin ich schon seit einiger Zeit am Überlegen...“
Er unterbrach kurz, als er das surrende Geräusch eines nahenden, eisenbeschlagenen Pfeils hörte und forderte die anderen auf, in Deckung zu gehen. Es handelte sich um einen Armbrustbolzen, doch er war schlecht gezielt und flog über ihren Köpfen hinweg.
„Wie gesagt bin ich am Überlegen, wie wir aus dieser Stadt herauskommen. Ich kenne keinen geheimen Pfad oder so etwas, denn als Befehlshaber der Wachen auf den Wehrgängen war es mir immer möglich, Akhoum durch das Haupttor zu verlassen“, fuhr er fort, nachdem sie wieder ihren Weg aufgenommen hatten.
„Aber ich kenne einen Weg“, gestand Yala. „Er führt durch das Waffenlager...“
„Das ist vollkommen unmöglich, niemand kommt durch das Waffenlager, ohne sofort gefangen genommen zu werden“, unterbrach sie Lukdan.
„Wenn du einen Beweis willst, dann sieh dir Tado an. Vor ein paar Tagen habe ich ihn auf einem bisher unentdeckten Weg hierher gebracht, er stammt nämlich eigentlich gar nicht aus Akhoum“, entgegnete sie.
„Was?!“
Lukdans Stimme überschlug sich fast und sie klang mit einem Mal sehr schrill. Ein zartes Lächeln zeichnete sich auf Yalas Lippen ab.
„Hast du nicht gesagt, als du erfahren hast, dass du gesehen wurdest, dass der Weg bald entdeckt werden wird?“, fragte Tado, eigentlich nur, um Lukdan nicht auf den Gedanken zu bringen, ihn zu töten und als Austausch für sein eigenes Leben auszuliefern. Er glaubte nämlich, dass der Krieger, obwohl dieser im Gegensatz zu ihm keine Waffe trug, ihm dennoch überlegen war.
„Ich denke nicht, dass sie damit ihre Zeit verschwendet haben, immerhin wussten sie, dass das Heer Syphoras sich auf dem Weg hierher befand“, antwortete Yala.
Wie dem auch sein mochte, so blieb dieser hoffentlich noch geheime Weg in jedem Fall ihre einzige Möglichkeit zur Flucht. Zwar war das Haupttor stark beschädigt und es klaffte nun eine große Lücke in der Mauer, aber diese wurde sicher ebenso gut bewacht, und da sie den Weg durch die Stadt hindurch nicht nehmen konnten, müssten sie Akhoum auf dem Wehrgang der Stadtmauer umrunden, was sie mehrere Stunden kosten würde.
Tado hatte die Drachenklinge derweil in seiner Schwertscheide verstaut, sodass diese nun nicht mehr nutzlos an seinem linken Bein hinunterbaumelte.
Sie rannten nun bereits eine Viertelstunde, und die immer noch hinter ihnen her stürmenden Krieger hatten bereits die halbe Stadt auf sich aufmerksam gemacht. Während also zu ihren Verfolgern immer mehr Leute mit frischen Kräften hinzustießen, gingen ihre langsam zur Neige. Und plötzlich sahen sie sich mit einer ganz anderen Gefahr konfrontiert. Denn vor ihnen auf dem Wehrgang tauchte in diesem Moment niemand Geringeres als die Hohepriesterin selbst auf. Ihr folgten in ein paar hundert Schritten Entfernung einige bewaffnete Soldaten, unter ihnen befand sich auch Giful. Selbstverständlich konnte der Bogenschütze schneller rennen als die drei Flüchtenden, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er sie überholt hatte. Wie es jedoch Uris schaffte, derart schnell von der Burg hierher zu kommen, das blieb Tado ein Rätsel, zumal das Gewand, das sie trug, jedes schnellere Laufen unmöglich machen musste. So sah er sich nun gezwungen, genau wie Lukdan und Yala, in seinem Schritt inne zu halten, denn es gab keine Möglichkeit, von ihrer derzeitigen Position aus zu fliehen. Hinter ihnen, zwar noch gute zweihundert Meter entfernt, aber dennoch näher kommend, stürmten noch immer einige Dutzend Soldaten durch die Stadt und über den Wehrgang, eine ähnliche Anzahl aus annähernd gleicher Entfernung kam nun auch von vorne auf sie zu. Die nächstgelegene Treppe, die von dem Wehrgang herunter führte, wurde von der Hohepriesterin blockiert, die nun ihre Hand in Richtung der drei ausstreckte und sie kurz darauf zur Faust ballte. Eine kleine Welle hellen Lichts strömte auf sie zu. Wenn es sich dabei um die gleiche Macht handelte wie am Abend zuvor, dann würde sie dieser Angriff wahrscheinlich von der Mauerkrone schleudern und sie viele Meter in die Tiefe stürzen lassen. Reflexartig hielt Tado dem Zauber die Drachenklinge entgegen. Als beide Magien aufeinandertrafen, teilte sich die leuchtende Woge aus Uris’ Hand, und beide Hälften wurden um die Flüchtenden herum gelenkt, trafen hinter ihnen wieder zusammen und steuerten dann auf ihre Verfolger zu. Das Licht schleuderte die Krieger mehrere Meter weit zurück.
Hätte Tado vorher gewusst, dass seine Waffe zu so etwas in der Lage war, dann wäre der Kampf gegen den Lord des Feuers um einiges leichter gewesen. Und wie er sich auf diesen Kampf zurückbesann, kamen ihm in Gedanken die Bewegungen der Hohepriesterin in den Sinn. Wenn sie einen Zauber entfesselte, ballte sie ihre Hand zur Faust. Dies hatte auch der Lord so getan. Möglicherweise konnte es eine Eigenart aller Magier sein, doch Mégotark beispielsweise benutzte keine solche Geste. Gehörte Uris etwa zu den Herren von Telkor? Dieser Gedanke erschien ihm lächerlich, doch er hatte zugleich auch etwas sehr Beunruhigendes.
Mittlerweile erreichten Giful und einige andere Soldaten die Hohepriesterin, und sie befahl ihnen erneut, die Flüchtenden zu töten. Diesmal setzten sich auch die übrigen Krieger in Bewegung, denn sie sahen, dass Lukdan keine Waffe bei sich trug. Doch der Bogenschütze hielt sie zurück.
„Wartet! Das Gesetz Akhoums gebietet es, Verräter zur Abschreckung öffentlich hinzurichten“, sagte er, und in der Tat hielten die Soldaten in ihrer Bewegung inne und sahen Uris unsicher an.
„Dies war ein Erlass Heroduns, und er ist an ihn gebunden. Sein Tod schmerzt mich sehr, doch da der Statthalter nicht mehr lebt, erlischt das Gesetz“, antwortete diese.
„Wenn euch sein Tod wirklich so sehr betroffen macht, wie ihr sagt, dann befolgt sein Gesetz ein letztes Mal und erweist dem Toten Ehre“, entgegnete Giful.
Die Krieger blickten nunmehr erwartungsvoll zur Hohepriesterin. Offensichtlich gefiel ihnen der Vorschlag und Uris sah sich gezwungen, ihn zu befolgen, auch wenn dies den Flüchtenden erneut eine Gelegenheit gab, einen Plan zum Entkommen auszuarbeiten.
„Also gut“, sagte sie schließlich. „Bringt sie auf den großen Platz und tötet sie dort.“
Ein Soldat trat hinter ihrem Rücken hervor.
„Ehrwürdige Hohepriesterin“, begann er, „durch die gestrige Schlacht ist der große Platz sehr verwüstet worden, und außerdem wird es einige Zeit dauern, die Bevölkerung über die bevorstehende Hinrichtung in Kenntnis zu setzen.“
Uris musste innerlich kochen vor Zorn. Sie wollte die drei, die als einzige wussten, wer wirklich für den Tod Heroduns verantwortlich zu machen ist, so schnell wie möglich loswerden, und nun würde vermutlich ein weiterer Tag vergehen, ehe es soweit wäre.
„Werft sie in den Kerker“, befahl sie schließlich, doch diesmal rief einer der Krieger, die die Flüchtenden seit der Burg verfolgten und, nachdem sie von dem Zauber der Hohepriesterin durcheinandergewirbelt worden waren, nun auch zu ihnen aufgeschlossen hatten, dazwischen: „Lasst sie nicht wieder die Burg Heroduns betreten! Sie haben diesen Ort schon einmal geschändet, und sie würden es wieder tun!“
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