„Wie lange wird es noch dauern?“, fragte Herodun angespannt an Uris gewandt.
„Ich kann es nicht genau sagen. Ein solch komplexer Zauber benötigt viel Kraft. Ich kann nicht riskieren, dass er aus dem Ruder läuft“, antwortete sie. Plötzlich erschallte ein Warnschrei über das Dach des Turms. Giful hatte den Vogel zum Absturz gebracht, doch seine Ladung war dem Wesen aus den Krallen entglitten und flog nun direkt auf die Kämpfenden zu. Sollten die drei Holzverschläge hier oben auf dem Turm aufschlagen, so würden sie nahezu alles unter sich begraben. Als Uris dies bemerkte, schloss sie ihre ausgestreckten Hände zur Faust (diese Bewegung kam Tado bekannt vor, er konnte sich jedoch nicht erinnern, wo er sie schon einmal gesehen hatte) und die bläulich leuchtenden Flammen schossen in die Höhe, knallten gegen den ordanen Schild und in einer geräuschlosen Explosion breitete sich eine Welle weiß schimmernder Magie aus; und alles, was sie traf, wurde wie von einer unsichtbaren Macht erfasst und meterweit davongeschleudert. Die hölzernen Verschläge krachten auf diese Weise lediglich gegen die Außenmauer des Turms, und alle Feinde, die die Treppen erklommen, wurden erfasst und über den Rand hinauskatapultiert. Die Kämpfenden auf dem Dach warf es durcheinander, und Tado ließ sich im letzten Moment von der Zinne nach vorn fallen, sodass er nicht in den Tod stürzte, sondern stattdessen nur gegen die niedrige Begrenzung stieß. Die Magiewelle breitete sich in ganz Akhoum aus, wirbelte die Armeen durch die Luft, löschte die brennenden Gebäude, und wenn sie die Stadtmauern erreichte, so verharrte sie dort, und niemand konnte mehr hineingelangen. Sowie sie aber auf den gewaltigen Belagerungsturm traf, da verstärkte sich ihre Macht um ein Vielfaches, denn die gigantischen Rammböcke waren ebenfalls aus Ordan. So explodierte die Zerstörungsmaschine und begrub hunderte Angreifer unter sich. Die Ogerkäfer brachen unter dem gewaltigen Druck zusammen, denn auch ihre Plattenpanzer waren nicht natürlich, sondern durch Syphora mit Ordan verstärkt, sodass auch sie vernichtet werden konnten und die umstehenden Truppen der Feinde mit sich rissen.
Die Schlacht auf dem Dach des Hauptturms fand indes ihr Ende. Durch die ausbleibende Verstärkung unterlagen die Angreifer den Elitekriegern.
„Wie lange kannst du den Zauber aufrechterhalten?“, fragte Herodun, nachdem sie sich alle wieder gesammelt hatten.
„Solange, bis der Schild geschmolzen ist“, antwortete Uris. Tado sah, dass die Ränder des Objekts bereits rot zu glühen begannen. „Das wird etwa in vier Stunden der Fall sein. Bis dahin solltet ihr die verbliebenen Armeen aus der Stadt vertreiben.“
„Das ist kein Problem. Die angeforderte Verstärkung der umliegenden Gebiete ist soeben eingetroffen. Du solltest ihnen jedoch Einlass durch deinen Zauber gewähren“, meinte der Statthalter.
So geschah es. Ein ungefähr zweitausend Mann starkes Heer drang in die Stadt ein und vernichtete die verbliebenen Angreifer. Die geflügelten Kreaturen, die noch immer Verstärkung brachten, prallten vom magischen Schild ab, und nicht wenige verloren dabei ihre Ladung.
Als man Tados Wunde sah, gestattete man ihm, da man ihn für kampfunfähig befand, sich den Rest der Nacht auszuruhen. Yala begleitete ihn. Sie kamen einige Zeit später an den großen Platz, wo sich ihnen ein schreckliches Bild bot: Die Körper tausender Gefallener übersäten den Boden, ein Großteil der umliegenden Häuser war eingestürzt oder beschädigt. Der Turm, in dem sich auch Yalas Wohnung befand, hatte glücklicherweise nur einige Risse im Mauerwerk, von der ehemaligen Existenz der beiden hohen Gebäude in der nordöstlichen und nordwestlichen Ecke des Platzes zeugten hingegen nur noch die Grundmauern.
Sie erreichten das oberste Stockwerk nur mit einiger Mühe, denn viele der Treppenstufen wiesen im Dunkel nur sehr schwer zu erkennende Schäden auf. Die Tür zu ihrer Wohnung stand halb offen. Ein Teil des Fensters nach Nordosten war herausgebrochen. Im Innern erwischten sie doch tatsächlich einen Trok, der sich gerade mit dem Plündern des Hausrats befasste. Er trug keine Waffe und so warfen sie ihn nach einem kurzen Gerangel aus dem zerstörten Fenster, wodurch er einen Tümpelschlinger erschlug, der gerade mit einer gespannten Armbrust auf einen Soldaten Akhoums zielte.
Nach diesem Zwischenfall reinigte er unter unerträglichen Schmerzen seine Wunde, Yala verband sie ihm.
Ein lautes Klopfen an der beschädigten Tür riss ihn aus dem Schlaf. Er wollte aufstehen, doch ungeheure Schmerzen im Bauch warfen ihn förmlich zurück. Es war auch gar nicht mehr nötig, denn Yala öffnete dem morgendlichen Besucher bereits. Sie schien schon etwas länger wach zu sein.
„Lukdan“, rief sie überrascht, fast schon erschrocken. „Was machst du hier?“
Der Krieger hatte kleinere Verletzungen am ganzen Körper und er sah sehr müde aus, vermutlich hatte er noch die ganze Nacht hindurch gekämpft.
„Herodun will uns sprechen. Dich, mich und...“ Er stockte kurz, als er Tado sah. „Und deinen Begleiter, der aus welchem Grund auch immer in deiner Wohnung übernachtet.“
„Sein Haus ist abgebrannt“, log Yala. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass Lukdan noch immer nicht wusste, dass Tado eigentlich gar nicht aus Akhoum stammte.
Sie verließen das Gebäude nur wenige Minuten später. Erst jetzt wurde ihm das gesamte Ausmaß der gestrigen Schlacht bewusst. Noch immer stiegen vereinzelte Rauchschwaden aus zahlreichen zerstörten Gebäuden empor, etliche Leute waren mit der Beseitigung der gefallenen Krieger beschäftigt, die so ziemlich jede Straße säumten. Der große Platz erwies sich als ein einziges Schlachtfeld: Den Brunnen in der Mitte füllten tote Troks, ein Ogerkäfer steckte zur Hälfte in einer eingerissenen Häuserwand, der Boden hatte zahllose Löcher bekommen, Holzteile vom Belagerungsturm, die mehrere hundert Meter weit bis hier her geflogen waren, bedeckten die Leiche eines Kindes. Eine Übelkeit stieg in Tado empor, als sich ihm dieser Anblick offenbarte. Yala vermochte kaum noch irgendwo hinzusehen.
Lukdan registrierte dies und versuchte, sie ein wenig abzulenken: „Als ich vorhin zu euch gehen wollte, sagte mir einer der Soldaten, ich solle euch seinen Dank aussprechen, angeblich habe gestern ein aus dem obersten Stockwerk fallender Trok einen Tümpelschlinger unter sich begraben, der ihn gerade bedrohte.“
Die zwei bejahten dies zwar, wurden dadurch aber nicht wirklich auf andere Gedanken gebracht. Dies änderte sich auch nicht, als sie einen Blick auf die Hauptstraße warfen. Die hatte es nämlich am schlimmsten getroffen. Keines der angrenzenden Gebäude war unbeschädigt geblieben, überall lagen Trümmerteile. In der Ferne ragte der Sockel des Belagerungsturms nur noch wenige Meter empor. Hinter ihm erstreckte sich eine Schneise der Zerstörung. Die ordanen Rammböcke mussten alles dem Erdboden gleichgemacht haben, was auch nur ansatzweise in ihre Reichweite kam. Die Ogerkäfer, die das riesige Konstrukt schoben, lagen verstreut auf der neu geschaffenen Ebene hinter der Verwüstungsmaschine, denn Gebäude gab es auf dem etwa fünfzig Meter breiten und hundert Meter langen Gebiet zwischen Belagerungsturm und zerstörtem Tor nicht mehr. Der zweite Flügel hing noch immer halb herausgerissen in dem nur noch zur Hälfte vorhandenen Torbogen der Mauer.
Tado ging nun bereits zum dritten Mal zur Burg, und bisher hatte er jedes Mal einen anderen Weg nehmen müssen. So auch jetzt. Sie folgten den breiteren Straßen und Wegen, denn diese waren weitestgehend von den Schrecken der letzten Nacht befreit worden. Nur vereinzelt stießen sie auf die Überreste eines Ogerkäfers oder auf die fellüberzogenen, leblosen Körper der Troks.
Plötzlich zog ein Schatten über die Stadt, und als er in den Himmel blickte, sah Tado, dass dunkle Wolken die Sonne verdeckten. Einige Regentropfen befeuchteten den von getrocknetem Blut zum Teil fast schwarz verfärbten Boden. Dies überraschte ihn ein wenig, denn eigentlich hatte er gedacht, dass es hier niemals regnen würde. Dennoch reichte das herabfallende Wasser nicht aus, um Lukdan dazu zu bewegen, seine Schritte zu beschleunigen und so bogen sie wenig später recht durchnässt in eine enge Gasse ein. Nachdem sie sie durchquert hatten, befanden sie sich am Rand der Stadtmauer im Norden Akhoums. Hier schienen die Angreifer nicht allzu stark gewütet zu haben, denn die Häuser waren an dieser Stelle weitgehend unbeschädigt. Allerdings begegneten ihnen hier auch nicht so viele Bewohner wie im Zentrum.
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