Lukdan bestieg eine schmale Treppe, die hinauf auf die Mauerkrone führte. Von hier oben sah Akhoum sehr beängstigend aus. Der Osten glich eher einer Ruinenstadt als einem Wohngebiet, auch der Westen schien ziemlich verwüstet worden zu sein. Bis an den Südrand konnte er von hier aus nicht sehen, denn feine Rauchschwaden versperrten ihm die Sicht. Dafür erkannte er weit im Norden, etliche Kilometer entfernt, die grauen Gipfel eines niedrigen Gebirges.
„Warum will Herodun eigentlich nur uns sprechen und nicht auch Giful?“, fragte Yala, als sie in östlicher Richtung weitergingen.
„Natürlich will Herodun auch Giful sehen“, antwortete Lukdan. „Aber er hat noch einige Sachen zu tun und wird später kommen.“
„Weißt du wenigstens, was er von uns will?“, wollte nun auch Tado wissen.
„Ehrlich gesagt nicht. Ein Bote überbrachte mir die Nachricht. Wir sollen auf schnellstem Wege zum Statthalter kommen.“
Ein Soldat, der sich ihnen im Laufschritt näherte und dann an ihnen vorbei hechtete, ließ das Gespräch verstummen. Die drei folgten weiter dem Wehrgang, der sie nach einiger Zeit schließlich direkt an die Mauern der Burg führte. Hier mündete er in einem kleinen, ziemlich heftig beschädigten Nebentor, das ins Innere des gigantischen Gemäuers führte. Der vergiftete Speer eines Tümpelschlingers zeugte davon, dass die Feinde anscheinend mit allen Mitteln in die Festung einzudringen versucht hatten.
Plötzlich hörte es auf zu regnen. Die finsteren Wolken zogen weiter gen Osten und die Sonne ließ ihre Strahlen wieder unbarmherzig auf die verwüstete Stadt herab. In den Straßen sah er viele Menschen zusammenlaufen, und sie alle blickten nach Süden. Schrecken konnte Tado in ihren Gesichtern lesen, doch als er in die gleiche Richtung sah, konnte er nichts Beunruhigendes entdecken. Ein Regenbogen spannte sich etwas entfernt über den Himmel. Lukdan blieb stehen. Auch Yala wandte sich dem Naturschauspiel zu.
„Was ist so besonders an diesem Regenbogen?“, fragte er die beiden, die beunruhigt auf die farbenprächtige Erscheinung blickten.
„Es heißt, dass einst großes Unheil über Akhoum hereinbrechen wird“, antwortete sie. „Eine Katastrophe, mit der die Stadt untergeht, vom Erdboden verschluckt wird.“
„Und was genau hat das mit diesem Regenbogen zu tun?“, fragte er weiter.
„Das furchtbare Unglück soll sich ereignen, wenn ein Regenbogen sich über Akhoum spannt und seine Stadtmauern zur Gänze vom Halbrund eingeschlossen werden.“
Er konnte es nicht so recht glauben, was ihm da erzählt wurde, denn eine solche Naturkatastrophe musste eine gewaltige Ursache haben, und soweit er wusste, besaß ein Regenbogen keine solche Macht. Schließlich erstarb das farbenprächtige Spektakel und sie durchschritten den Einlass. Sie fanden sich in einem kleinen, an jeder Seite von hohen Mauern umgebenen Hof wieder. Eine Birke, bei der sich Tado ernsthaft fragte, wie sie diesem Klima standhielt, wuchs ziemlich genau in der Mitte des gepflasterten Platzes in einem eigens dafür angelegten Rund aus Erde. Die kleine Gruppe umkreiste das Gewächs. Einige hölzerne Kisten lagen verstreut in den Ecken des Hofes, vermutlich hatte sie der Zauber Uris’ getroffen.
Durch eine weitere Tür gelangten sie in einen großen Turm, den sie bis in das oberste Stockwerk hinaufstiegen. Dort zweigten zwei Gänge ab. Lukdan nahm den in nordöstlicher Richtung befindlichen, und so überquerten sie einen überdachten Weg, von dem aus man hinab in den Burghof blicken konnte. Es schien niemand dort unten zu sein.
Bald darauf standen sie vor einem kleinen Tor eines in die Mauer eingelassenen, sehr groß anmutenden Gebäudes, das sich weit hinein ins Innere der Burg erstreckte. Dies musste das Haus sein, in dem Herodun lebte. Ein Wächter versperrte ihnen den Weg.
„Ihr habt hier keinen Zutritt. Der Statthalter ergeht sich in wichtigen Angelegenheiten und wünscht keine Störung“, sagte er.
„Wir kamen auf seinen Befehl“, entgegnete Lukdan. Dies brachte den Krieger zum Nachdenken.
„Mir ist zwar nichts dergleichen bekannt, aber ich möchte nicht den Zorn Heroduns auf mich ziehen. Dennoch, wenn ihr passieren wollt, so müsst ihr euch zunächst eurer Waffen entledigen. Die Leibgarde des Statthalters ist in der vergangenen Nacht nämlich sehr geschwächt worden.“
Widerwillig überreichten ihm Lukdan und Tado ihre Waffen, Yala hingegen wusste ihren Dolch zu verbergen. Dann öffnete der Wächter das niedrige Tor und die drei gelangten in eine kleine Halle, in der sich jedoch niemand aufhielt. Erst als sie eine weitere Tür durchschritten, standen sie plötzlich in einem hohen, weitläufigen Raum, von dem weitere Durchgänge zur Rechten abzweigten. Links von ihnen gaben einige Fenster den Blick nach Westen frei, sie besaßen keine Scheiben und einige reichten bis zum Boden, sodass man durch sie hinaus auf einen balkonartigen Vorbau treten konnte. Goldene Leuchter hingen von der kunstvoll bemalten Decke herab. An der Nordseite des Zimmers, auf dessen von Teppichen bedeckten Boden sich keinerlei Möbelstücke fanden, war ein erhöhter Sitz in die Wand eingelassen, wobei es sich nur um des Statthalters Thron handeln konnte. Darauf saß Herodun, aufrecht, und ein Speer hatte seine Brust durchbohrt und ihn an die hölzerne Rückenlehne genagelt. Die gezackte Klinge eines Säbels steckte in seinem Hals, eine weitere ragte ihm aus dem Rücken. Ein Blutrinnsal ergoss sich noch immer aus den schweren Wunden und färbte den Boden rot. Zu seinen Füßen lagen zwei Leibwächter, jeder von ihnen von etlichen Pfeilen durchbohrt.
Die drei, die soeben den Raum betreten hatten, hielten augenblicklich inne und erstarrten vor dem schrecklichen Anblick, der sich ihnen bot.
„Was ist hier nur passiert?“, stammelte Lukdan.
Wer auch immer hierfür verantwortlich zu machen war, musste über gewaltige Kräfte verfügen, denn Tado konnte sich noch gut an die vergangene Nacht erinnern, und dort vermochte es kaum jemand, den Leibwächtern oder Herodun selbst auch nur einen Kratzer zuzufügen.
Sie gingen auf die Ermordeten zu. Leise und unmerklich, wie durch einen schwachen Zauber, schloss sich die Tür hinter ihnen. Es brauchte nicht viel, um sich von dem Tod der Krieger und des Statthalters zu überzeugen. Die ihnen zugefügten Wunden hätten jeden Ogerkäfer umgebracht. Ein leichter Wind blies durch die offenen Fenster.
„Was sollen wir tun?“, fragte Yala, und in ihrer Stimmen schwang großes Entsetzen mit.
„Ihr solltet euch stellen und für eure Tat die Verantwortung übernehmen“, erklang eine Stimme hinter ihnen.
Tado erkannte sie. Sie gehörte Uris, und als sie sich umdrehten, sahen sie, wie die Hohepriesterin durch einen der Durchgänge zur Rechten den Raum betrat.
„Wir haben dies hier nicht zu verantworten“, erwiderte Lukdan. „Der Statthalter war bereits tot, als wir den Raum betraten.“
„Das weiß ich“, antwortete Uris. „Nur leider wird euch das niemand sonst glauben.“
„Ihr könntet für uns bürgen“, sagte der Krieger aus Akhoum.
„Damit würde ich mich selbst in Gefahr bringen“, entgegnete sie.
„Aber man wird uns hinrichten. Ihr seid jedoch die Hohepriesterin und es wird niemand...“
„Warte einen Moment“, unterbrach ihn Tado plötzlich. „Woher wusstet ihr, dass Herodun bereits tot war, als wir hier her kamen?“, fuhr er dann an Uris gewandt fort. Sie wirkte für einen Moment überrascht.
„Da ich es euch offenbar nicht verheimlichen kann, will es euch erzählen“, meinte die Hohepriesterin. Der Unterton ihrer Stimme ließ ihn erschaudern. „Bereits vor sieben Jahren hätte er sterben sollen, doch ein Mädchen, das wir nur kurz zuvor in der Wüste fanden, warnte ihn vor den giftigen Dornpflaumen, und so überlebte Herodun. Von da an ließ er sein Essen immer vorkosten und es ergab sich keine Gelegenheit mehr, sich seiner ohne großes Aufsehen zu entledigen. Ich kam nicht an seinen Leibwächtern vorbei, sie waren zu gut ausgebildet. Mit der gestrigen Schlacht ergab sich endlich eine Möglichkeit, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Leider erwies er sich widerstandsfähiger als erwartet, und da ihr schneller und lebendiger als gedacht von eurem Auftrag zurückkamt, musste ich den Schutzzauber zu früh entfesseln, sodass er den Angriff tatsächlich überlebte. Allerdings verlor er einige seiner Leibwächter, und so entschied ich mich, zu einer brutaleren Maßnahme zu greifen.“
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