Lassen Sie Ihr berufliches Wirken einmal gänzlich weg. Auch Ihre Verdienste im Verein, in der Kirchengemeinde und im Sport verschweigen Sie. Sie zählen nicht auf, wie sehr Ihre Kinder Sie brauchen oder Ihre Enkel und was Sie für Ihre Familie alles investieren. Sie zeigen keine Fotos von Ihrem Haus und Ihrem Garten herum und auch nicht von jenem teuren Hotel, das Sie sich im Sommerurlaub leisten. Sie beweisen auch nicht, wie toll Sie Klavier spielen, singen oder kochen können. Alles, was Ihr Verdienst ist, lassen Sie weg ... und schon fragen Sie sich vermutlich, was eigentlich noch übrig bleibt.
Worüber definiere ich mich? Was macht mich wichtig und wertvoll? Was zeichnet mich aus? Was verschafft mir Anerkennung und was macht meinen Wert aus?
Schnell landen wir bei der Antwort auf diese Fragen bei Dingen, die wir gemacht und geschafft haben. Dann geht es uns unversehens nicht anders als jenen pensionierten Pastoren. Solange wir noch atmen können, versuchen wir, uns über das zu definieren, was wir (noch) schaffen oder geschafft haben. Das Haus, das Segelboot, das Pferd. Das Sparguthaben, die Firma, eine tolle Gemeindearbeit. Die Anzahl der geschriebenen Bücher, das Elektroauto, die vielen gut geratenen Kinder.
Eine reformatorisch verstandene Theologie der Rechtfertigung bedarf solcher Aufzählungen nicht. Sie setzt völlig anders an. Sie setzt bei dem an, was Christus für uns geschafft, gemacht und getan hat.
Als evangelische Christen wissen wir das natürlich. Wir bekennen mit dem Apostel Paulus und dem Reformator Luther, dass wird »ohne unseren Verdienst und unsere Werke gerecht werden« (Rö. 3,24+28). Jesus Christus hat alles getan. Allein aus Gnade werden wir gerettet. Das ist für viele von uns alltägliches Basiswissen. Wir setzen es voraus. Zu Recht!
Der Evangelist Matthäus formuliert an zentraler Stelle in der Bergpredigt einen wichtigen Satz:
»Ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Mt. 5,20)
Theologen aller Generationen haben darüber debattiert, was mit dieser »besseren Gerechtigkeit« wohl gemeint sei. Sollen wir Gebote und Regeln noch gewissenhafter einhalten als die Frommen von damals? Und noch pedantischer auf deren Umsetzung achten? Sollen wir die Fehler vermeiden, die in der Bibel angeprangert werden und z. B. Gottesdienste ohne »Geplärr der Lieder« feiern (Amos 5,23) oder fromme Heuchelei vermeiden, wie jene Eiferer sie praktizieren, die Jesus als »übertünchte Gräber« bezeichnet (Mt. 23,27)? Geht es primär um die Verbesserung unserer Gottesbeziehung oder eher um die Perfektionierung unseres Lebenswandels?
Nein!
Die »bessere Gerechtigkeit« setzt woanders an.
Sie setzt nicht bei mir selbst an, weder bei meiner Frömmigkeit noch bei meinen guten Taten, weder bei meiner Rechtschaffenheit noch bei meiner möglicherweise allseits bewunderten Einsatzfreude für Gott, die Kirche und die Menschen. Das alles trägt nicht dazu bei, dass ich Gott recht bin und ins »Himmelreich komme«, wie unser Vers sagt.
Folglich muss ich all das, was ich mache, auch nicht aufzählen, um meine Bedeutung zu betonen. Mag sein, dass ich damit in einem Pfarrkonvent oder im Jugend- oder Gesprächskreis beeindrucke, dass ich von Zuhörern und Lesern bewundert werde und meine Nachbarn und Kollegen mich sogar beneiden – Gott jedoch lässt sich nicht täuschen.
Vermutlich schüttelt er eher mit dem Kopf, wie ich damals bei jenem Pastorentreffen. »Was soll das? Meinst du, damit sammelst du bei mir Punkte? Und wenn dein Konto voll ist, dann schließe ich dir den Himmel auf? Oder du kriegst einen Platz in der Loge? Meinst du, ich vergebe Noten wie ein Lehrer in der Schule und am Ende heißt es: ersetzt ins Himmelreich? Oder ich veranstalte eine christliche Miss-Wahl und bewerte deine Leistungen und Verdienste? Du Narr!«
Na ja, so oder ähnlich könnte ich mir die Reaktion Gottes vorstellen. Kopfschütteln. Oder mehr als das: Gott leidet. Der Vater allen Lebens fühlt sich völlig falsch verstanden. »Kind, was machst du da? Was für ein Bild hast du bloß von mir? Bin ich aus deiner Sicht so gemein, dass ich dich ständig antreibe, besser zu werden? Meinst du, es ginge um artiges Verhalten, brav sein und Pflichterfüllung? Oder um großartige Titel, Besitz, Ruhm und Vorzeigeprojekte? Oder um neue Rekorde beim Erklimmen moralischer Höchstleistungen? Oh mein Kind, wie wenig hast du doch begriffen!«
Ich gehe davon aus, dass Sie, jedenfalls wenn Sie sich im Kontext von Kirche und Gemeinde bewegen, längst verstanden haben, worin unser »reformatorisches Erbe« besteht. »Allein aus Gnade« ist der Schlüssel zum Verständnis der »besseren Gerechtigkeit«.
»Gnade« ist ein Begriff aus dem Strafrecht. Jemand sitzt im Gefängnis, ist verurteilt – vielleicht sogar zum Tode. Sein Anwalt reicht den Antrag auf Begnadigung ein. Ob sie erteilt wird und ein Freispruch erfolgt, ist völlig offen.
Interessant, spannend und großartig zugleich: Bei Gott ist der Ausgang ganz und gar nicht offen. »Gnade« beschreibt die Vor-Entscheidung des liebenden Vaters für seine Kinder. Ohne Wenn und Aber: Wir sind seine geliebten Kinder, egal was wir getan oder nicht getan haben. Wir gehören zu ihm, unabhängig von dem, was wir geleistet haben und was wir von damals oder heute in Vorstellungsrunden oder Grußworten mehr oder weniger ehrlich als unser Lebenswerk auflisten bzw. von anderen lobend gesagt bekommen.
Gnade wird geschenkt – Gerechtigkeit kostet
Noch etwas: Gnade ist gewissermaßen das Gegenteil von »Gerechtigkeit«. Auf Schuld steht Strafe. Das ist gerecht, dem Gesetz gemäß. Und das ist ja das Besondere am Evangelium: »Die Strafe liegt auf ihm!« (Jes. 53,5) Dieses alttestamentliche Wort haben die ersten Christen auf Jesus bezogen. Er hat das Gesetz erfüllt, weil er sich der Strafe nicht entzogen hat. Er hat die Konsequenzen getragen – bis hin zur Todesstrafe am Kreuz.
Gnade ist völlig unverdient und umsonst. Ich kann und muss sie mir nicht erarbeiten und verdienen.
Gerechtigkeit dagegen ist teuer. Sie kostet Jesus das Leben. Er übernimmt die Verantwortung gegenüber dem Gesetz Gottes – für Sie und mich.
Wenn man die Bibel liest, ist es immer hilfreich zu fragen, wer das Gelesene gesagt, gemacht oder geschrieben hat. Oft erschließt sich erst durch solche Recherche die Kernaussage eines Bibelwortes. So auch hier in Matthäus 5,20.
Matthäus zitiert Jesus selbst. Bei allen Diskussionen um Details: Zumindest Theologen in reformatorischer Tradition sind sich einig. Die »bessere Gerechtigkeit ist nicht die mehr oder weniger hart erarbeitete Akzeptanz Gottes, nicht der verdiente und in einem gottgefälligen Lebensstil begründete Lohn meines Lebens und auch nicht die Anerkennung Gottes für ein frommes, humanes und verantwortungsvoll geführtes Dasein – sondern die »bessere Gerechtigkeit ist jene, die Jesus Christus für uns erlangt hat. Er schenkt sie uns, er spricht sie uns zu.
Es lohnt sich, eines der wichtigen Werke Dietrich Bonhoeffers zu diesem Thema zu lesen, das Buch »Nachfolge«. Dieser Mann war ja nicht nur ein Märtyrer, der im April 1945 wegen seiner Beteiligung am Attentat auf Hitler hingerichtet wurde und auch nicht nur ein tiefsinniger Dichter, der uns diesen schönen Text »Von guten Mächten wunderbar umgeben« hinterlassen hat. Bonhoeffer war vor allem ein begnadeter Theologe. In »Nachfolge« beschreibt er die bessere Gerechtigkeit eindrücklich. Er spricht von einer »geschenkten Gerechtigkeit«. Er macht deutlich, dass Jesus das göttliche Gesetz völlig erfüllt hat, auch den letzten Buchstaben und das »kleinste Tüpfelchen« (Mt. 5,18).
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