„Was hat das mit mir zu tun? Warum erzählen Sie mir das?“
„Hören Sie einfach weiter zu und schweigen Sie! Das Mädchen war Siebzehn, als es starb. Von gewissenslosen Männern geschändet, zweifelte es an Gott und schließlich an sich selbst. Mit dieser Schmach konnte es nicht weiterleben und warf sich vor einen Zug.“
Die Gedanken von Schröder überschlugen sich. Im Geiste ging er Jahre zurück und wie von fern sah er eine Radfahrerin auf sich zukommen. Er sah Kalle und die anderen und dann wusste er wieder alles. Jede Einzelheit, alles tauchte wieder klar vor ihm auf.
„Ich … ich habe nicht gewollt…“
„Hein“ tat, als ob er den Einwand nicht gehört habe.
„Ihre Mutter hat das alles nicht verkraftet. Ihr Geist hat aufgehört, zu existieren, sie lebt in einer Welt, die es ihr ermöglicht, von alledem nichts mehr zu wissen.“
„Es tut mir alles so leid!“ Schröder weiß, dass er kämpfen muss. Kämpfen um sein Leben. Kalle war tot, Maathes war tot. Er soll der nächste sein. Und dann? Manni Reuter und Nob Nörtinger! Würden sie die nächsten sein? Schröders Körper wird plötzlich vor Angst geschüttelt und er sieht zu „Hein“ hinüber.
„Ich wollte das nicht! Ich…!“
„Damals war ich siebzehn Jahre alt“, fährt sein Gegenüber fort, ohne die Bemerkung von Schröder auch nur zu registrieren. Er beugt sich über Schröder, dass sein Gesicht fast das des schwer atmenden hilflosen Gastwirtes berührt.
„Ich schwor mir schon damals, Rache zu üben, Rache an den Männern, die meine Familie ruiniert haben, die der Mutter die Tochter, dem Bruder die Schwester nahmen und die Schuld am Tod meiner Mutter sind. Ja, meine Mutter ist tot, obwohl sie lebt. Fünf Männer sind dafür verantwortlich!“ Die Stimme des Mannes steigert sich und seine Augen bekommen einen irren Glanz.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn. Denn mein ist die Rache spricht der Herr!“ Der Blick des jungen Mannes hat nun alles Irdische verloren. Er tritt von Schröder zurück und breitet seine Arme aus. „Ich tue es für dich Mutter!“, schreit es aus ihm heraus. „Und für dich, Celine! Für uns und unseren Frieden!“
Dann wird der Mann, der für Schröder nur „Hein“ genannt werden will, plötzlich ganz ruhig, doch der Ausdruck seiner Augen verändert sich nicht.
„Der ist verrückt, der ist total verrückt!“ Schröder zerrt erneut an seinen Fesseln, die jedoch keinen Millimeter nachgeben. Dann registriert er, dass sein Mund ja nicht mehr geknebelt ist und setzt zu einem lauten Hilferuf an. Doch „Hein“ ist schneller, macht einen Schritt auf den wehrlos daliegenden zu und hält ihm den Mund mit der Hand zu. Mit der freien Hand nimmt er das Klebeband, das noch neben dem Kopf Schröders liegt und klebt es diesem mit einem Schwung wieder über den Mund.
„Meine Schwester hatte auch keine Gelegenheit, um Hilfe zu rufen. Ihr wart fünf Männer, sie war nur ein junges Mädchen, völlig hilflos.“
„Hein“ zieht aus seiner Hosenasche ein gefaltetes Etwas, das er mit einem plötzlichen Schwung seiner Arme entfaltet. Es ist ein hauchdünner Overall mit einer Kapuze, wie sie Lackierer tragen. Der Mann zieht sich bedächtig den Einweganzug an und zieht den Reißverschluss zu. Dann zieht er sich die Kapuze über den Kopf und schnürt sie unter dem Kinn zu.
„Wir wollen doch den schönen Anzug nicht schmutzig machen“, sagt der Mann und lächelt zu Schröder hinüber.
Dann greift er mit der rechten Hand in die linke Brusttasche seines Jacketts und zieht eine flache Packung heraus. Mit der anderen Hand zerreißt er die Perforierung am oberen Ende und zieht einen kleinen Gegenstand heraus.
Schröder erschrickt zutiefst, als er sieht, was der Mann da in der Hand hält. Sein Herz rast, alle Panik in seinem Leib sucht nach einem Ausgang. Er windet sich auf seinem harten Lager, das ihm nicht den Hauch einer Chance lässt, den Mann anstarrend, der nun nähertritt.
In seiner Hand blinkt die kleine Schneide eines Skalpells, kaum mehr als einen Zentimeter groß, aber geeignet, Leben zu erhalten, Schönheit wieder zu geben oder auch Leben zu vernichten. Wie gebannt starrt Schröder auf die Klinge und spürt bereits jetzt den Schmerz, bevor er ihn erreicht. Er will noch einmal schreien, will sagen, dass ihm alles leidtut, doch ganz plötzlich spürt er einen krampfhaften Schmerz in seiner linken Brustseite. Dann wird sein Körper still und entspannt sich auf der harten hölzernen Unterlage.
Er hat dem Satan einen Streich gespielt. Er ist gegangen, ehe ein anderer ihn dazu zwingen konnte. Freund Hein hat ihn in sein Reich abgeholt, der falsche „Hein“ hat das Nachsehen.
Unser Samstagausflug hatte in Weiskirchen ein jähes Ende genommen. Zum einen hatte Lisa das Handtuch geworfen, weil ich den kleinen Ausflugstrip angeblich zu dienstlichen Ermittlungen missbraucht hatte und zum zweiten, weil ich hinterher tatsächlich dienstlich tätig werden musste.
Ich informierte noch am selben Tag die Kollegen der Polizeiinspektion in Hermeskeil über die Aussagen des Beamten bei der dortigen Stadtverwaltung, Waldemar Weierich, die den beschriebenen Bereich zwischen Otzenhausen und Neuhütten in ihre Streifen einbezogen. Auch die Observation des Versteckes im Wald bei Neuhütten, in der Nähe des „Tirolersteins“, wurde weiter beobachtet.
Den Abend verbrachte ich zu Hause, bei Lisa. Ich hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Aber, wenn ich es mir genau überlegte, dieses schlechte Gewissen hatte mir Lisa eingeredet, eigentlich hatte ich gar keine Ursache dazu. Aber, so sind die Frauen halt. Und in meiner Situation konnte ich nur eines tun. Nicht mehr darüber reden und den Tag vergessen machen.
So saßen wir gemeinsam vor dem Fernseher, hatten einen trockenen Merlot, vor uns in den Gläsern und unter dem Tisch lag Terry auf meinen Füßen, die er nur freigab, wenn ich ihn damit auf dem Bauch kraulte.
Es klingelte. Ich suchte in meiner Hosentasche nach meinem Handy, doch Lisa hatte inzwischen den Hörer des Festnetz-Telefons abgenommen. Offensichtlich wer sie erst gar nicht dazu gekommen, sich mit Namen zu melden und hörte dem Anrufer zu. Viel sagend blickte sie dabei in meine Richtung und machte Handbewegungen, die ich nicht zu deuten wusste. Lisa zeigte auf Terry, dann auf den Telefonhörer und als sie merkte, dass ich nur Bahnhof verstand, hielt sie die Sprechmuschel des Apparates zu.
„Da behauptet jemand, wir hätten seinen Hund entführt“, sagte Lisa schnell zu mir herüber, um gleich wieder dem Anrufer weiter zuzuhören. Doch plötzlich verdunkelte sich der Blick in Lisas Augen.
„Jetzt halten Sie mal die Luft an. So wie ich das sehe, haben Sie sich wohl kaum um Ihren Hund gekümmert, sonst wäre das ja wohl nicht passiert!“
Offensichtlich ließ der Anrufer Lisa erst gar nicht recht zu Wort kommen. Ich stand auf uns nahm ihr den Hörer aus der Hand.
„Was wollen Sie? Aber sprechen Sie ruhig und vor allem langsam. Sonst lege ich gleich wieder auf!“
„Sie haben es nötig!“, tönte es aus der Muschel. „Sie sind im Besitz meines Hundes. Ich habe Sie gestern mit ihm gesehen, als ich mit meinem Auto an Ihnen vorbeigefahren bin.“
„Warum haben Sie nicht angehalten? Ich hatte nie vor, den Hund zu behalten. Aber er war herrenlos im Ort umhergeirrt und Sie können froh sein, dass sich jemand um ihn gekümmert hat! Also warum?“
„Warum was?“
„Warum haben Sie nicht angehalten?“
„Ich hatte es eilig. Deshalb rufe ich ja jetzt an.“
„Woher wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“
„Ich habe mich erkundigt, aber das spielt doch jetzt keine Rolle. Ich will meinen Hund wiederhaben!“
„Das kann ich verstehen, Sie können ihn gerne bei mir abholen.“ Ich gab dem Mann meine Adresse und wir einigten uns auf Montagabend, nach Dienstschluss, bei mir zu Hause.
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