"Guten Tag..."
Sie behielt die Augen geschlossen. Seit vielen Monaten schon ging sie Rahor Req-Nuur aus dem Weg und der junge Mann hatte dies stets respektiert. Einmal hatte er sie um Verzeihung gebeten. Mitten auf dem Gang des Unterrichtsgebäudes. Er hatte nicht gesagt, wofür er sich entschuldigte, aber das war auch nicht nötig gewesen.
"Ich... ich möchte dich nicht stören." sagte Rahor jetzt.
"Dann lass es."
"Wenn du es so willst... in Ordnung. Aber ich muss dir vorher noch etwas sagen."
Sie ermunterte ihn nicht, weiterzureden, aber wies ihn auch nicht noch einmal ab.
"Ich... ich wollte dir nur sagen, dass ich glaube, dass du die beste Kämpferin bist. Nicht nur in der Kaserne. Und... ich würde gern von dir lernen. Also wenn du jemals... naja, einen Kampfpartner suchst, dann..."
"Versuchst du, dich einzuschmeicheln?"
"Nein. Ich bin nur ehrlich. Es tut mir leid, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich hätte damals nicht zu Wandan gehen sollen. Ich dachte, es würde dir helfen, aber ich glaube, das hat es nicht. Und wenn es irgendetwas gibt, was diesen Fehler wieder gut machen kann, dann würde ich mich freuen, wenn du mir sagst, was es ist."
Dann endlich sah sie ihn an. Warum jetzt? Warum suchte Rahor ausgerechnet jetzt den Kontakt zu ihr? Gerade in dem Moment, da sie sich sicher war, dass sie keinen Menschen um sich haben wollte. Gerade jetzt, da ihr bewusster war denn je, dass sie immer allein sein würde?
Er schien zu ahnen, was sie dachte.
"Ich werde jetzt gehen." sagte er traurig. "Aber... Tinogal macht heute persönlich die Abendkontrollrunde. Er sieht auch gern auf dieser Mauerseite nach. Das... wollte ich dir auch noch sagen." Mit diesen Worten machte er kehrt und setzte bereits einen Fuß auf den Vorsprung, der allen, die manchmal hierher kamen, als Kletterhilfe diente.
"Warte."
Als Rahor sich umdrehte und Lennys' funkelnder Blick ihn traf, glaubte er zu erstarren. Eis schien seine Adern zu erfüllen. Das Gefühl, dass Lenyca Ac-Sarr in ihn hineinsah und jeden seiner Gedanken las, kam so jäh und erschreckend, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, dem großen Dämon selbst ins Antlitz zu blicken.
Dann war es vorbei.
"Ich hätte niemals ein Kind in dir sehen dürfen..." sagte er erschüttert. "Ich glaube, das ist das, wofür ich mich am meisten entschuldigen muss. Ich war hochmütig und selbstgefällig."
"Wir werden nicht mehr davon reden." erwiderte sie zu Rahors Verblüffung. "Über nichts mehr von dem, was war. Alles ist anders. Auch ich."
Obwohl er nicht wusste, was sie meinte, nickte er. Vor ihm stand nicht mehr die Fünfzehnjährige, die ihn zwar im Säbelkampf schlug, aber der er sich in anderen Dingen überlegen glaubte. Es war ein ganz anderer Mensch und Rahor ahnte, dass der vergangene Abend, den sie in Vas-Zarac verbracht hatte, etwas damit zu tun hatte.
"Es gibt nichts mehr, wofür du dich entschuldigen musst. Weil nichts mehr von alledem wichtig ist." fügte sie jetzt hinzu. Dann zog sie ohne weitere Vorwarnung den Shajkan.
"Yami solei!"
Rahor reagierte sofort.
"Arhat zen!"
Es war ein langer Kampf. Hätte ein Ausbilder ihn beobachtet, er hätte kaum glauben können, dass sich hier zwei Schüler der unteren Klassen gegenüber standen. Es gelang Rahor kaum, Lennys etwas entgegenzusetzen, aber er parierte all ihre Schläge und schaffte es sogar, einigen ganz und gar auszuweichen. Dann plötzlich spürte er das kalte Silber der Klinge an seinem Hals.
"Du wirst mich nie besiegen, Rahor Req-Nuur." sagte sie ernst. "Aber vielleicht alle anderen."
"Es ist mir eine Ehre, hier empfangen zu werden, hoher Shaj." Der schwarzhaarige Mann mit den grauen Strähnen verneigte sich tief.
"Nicht so förmlich, Celdros. Nur, weil dein letzter Besuch recht lange zurückliegt, heißt das nicht, dass du an Ansehen eingebüßt hast. Bitte, mach es dir bequem."
Saton war bester Laune. Er freute sich über seinen Gast und ebenso über den Anlass des Treffens. Die vergangenen Wochen gehörten ohnehin zu den glücklichsten seit Langem und es war an der Zeit, auch anderen solche Freuden zu gönnen.
"Sag, wie geht es deiner Tochter?"
Celdros lächelte stolz.
"Sehr gut. Sie ist ein wundervolles Mädchen. Sehr begabt. Die Priester reißen sich förmlich um sie."
"Ich habe gehört, dass sie auch gern kämpft?"
"Ja, das ist richtig. Ich vermag noch nicht zu sagen, für welche Säule sie sich am Ende entscheidet. Aber sie ist ja noch jung. Gerade erst vierzehn."
"Wir könnten sie zum Neujahrsfest in die Probeklasse aufnehmen. Dann ist sie alt genug. Und sie hätte ein ganzes Jahr, um sich zu entscheiden, bevor sie die offiziellen Aufnahmeprüfungen für die Kasernen durchläuft."
"Ich werde mit ihr darüber reden. Aber ich bin doch nicht hier, damit wir über Racyl sprechen, oder?"
Saton lachte.
"Nein, das nicht. Aber das bedeutet doch nicht, dass ich dir keine Ratschläge geben darf. Ihr seid eine große Kämpferfamilie. Und du, verehrter Celdros, hast ein hartes Los." Plötzlich huschte ein Anflug von Trauer über das Gesicht des Shajs. "Ich weiß, wie es ist, wenn man eine geliebte Frau verliert."
Betreten sah Celdros zu Boden. Er hätte gern etwas Tröstendes erwidert, doch ihm wollte nichts einfallen. Bereits zweimal hatte er die Mutter eines seiner Kinder zu Grabe getragen und beide Male hatte es ihm das Herz zerrissen. Doch es war der Shaj, der sich nun wieder zu einem Lächeln zwang. Dies war kein Tag, an dem sich er oder Celdros mit solch düsteren Gedanken beschäftigen sollten.
"Ich möchte dir zunächst einmal gratulieren." wechselte er abrupt das Thema. "Und ich möchte dich bitten, auch Rahor meine Glückwünsche auszurichten. Leider war es mir nicht möglich, selbst zur Prüfung zu erscheinen, aber nach allem was man so hört, scheint dein Junge für mächtig Aufsehen gesorgt zu haben."
Auch Celdros strahlte wieder.
"Nicht so sehr wie deine Tochter. Ich wüsste nicht, dass jemals eine Sechzehnjährige die Säulenprüfung abgelegt hat und noch dazu die gesamte Konkurrenz niedergekämpft hat."
"Fünfzehn." korrigierte Saton. "Sie hat erst nächsten Monat Geburtstag. Aber jetzt lenke nicht ab. Rahor überflügelt bislang alle Sichelkrieger - mit gerade mal achtzehn Jahren. Du weißt, dass ich das nicht einfach ignorieren kann."
Ein hoffnungsvoller Schimmer leuchtete in Celdros' Augen, doch er sagte nichts, sondern wartete ab.
"Ich verrate dir kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass Iandal und Akosh die beiden freien Cas-Plätze einnehmen werden. Zawas lange Krankheit und Erqis' hohes Alter zwangen mich dazu, mich bereits jetzt zu entscheiden. Und auch Shineas Nachfolge... Nun, ich darf niemanden grundlos bevorzugen. Ich möchte aber nicht, dass du am Ende enttäuscht bist, wenn Rahor noch ein wenig warten muss."
Celdros winkte hastig ab. "Enttäuscht? Ich und enttäuscht? Du... ich meine ihr..."
"Du."
"Nun... also... Saton, wenn... wenn ich dich recht verstehe, dann hältst du es für möglich, dass Rahor eines Tages...?"
Saton nickte. "Mehr als nur für möglich. Der letzte Krieger, der in so jungen Jahren solche Erfolge verzeichnen konnte, war Wandan."
"Und du." grinste Celdros.
Der Shaj lachte. "Nun, das lassen wir mal außen vor. Was ich dir sagen will, ist, dass Rahors Weihe zum Cas kaum noch etwas entgegensteht. Von ein wenig Zeit einmal abgesehen. Iandal sollte eigentlich weit hinter ihm und Lennys stehen, aber ich muss auch das Alter berücksichtigen. Vielleicht wirst du dich noch ein paar Jahre gedulden müssen. Ich will keinen meiner Erwählten aus dem Kreise nehmen, solange sie es nicht selbst wünschen. Aber ich bin mir sicher, dass bald wieder ein Req-Nuur zu den Neun gezählt werden darf. Versteh mich nicht falsch. Ich muss auch an die Zukunft denken. Nicht nur an meine. Und was deinen Sohn angeht, bin ich sogar mit Lennys einer Meinung."
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