Ein breitschultriger Mann kam über den Platz geeilt. Bohain erkannte ihn sofort und er ahnte auch den Grund für diese weitere Unterbrechung der Lehrstunde.
„Ich grüße dich, Wandan..“
„Und ich dich, Bohain. Du kannst sie für heute in ihre Zimmer schicken. Wir erwarten dich im Kasernensaal, um Saton zu begrüßen.“
„Alle?“
„Ja, alle. Kannst du mir sagen, wo ich Tinogal finde?“
„Vermutlich im Waffenkeller. Ich kann ihm Bescheid geben. Ist das nicht alles ein wenig übertrieben? Seit wann legt Saton Wert auf einen großen Empfang?“
Wandans Blick wurde ernst.
„Es geht heute nicht nur um Lennys. Er hat euch eine wichtige Mitteilung zu machen und es wäre besser, wenn du ihn nicht warten lässt. Hole Tinogal und dann beeilt euch.“
Die Säbelmeister der Kasernen, die Sichelausbilder und mit ihnen alle höheren Krieger hatten sich im Großen Saal des Komplexes versammelt und warteten gespannt auf das Wort Satons, das ihnen angekündigt worden war. Der Shaj hatte sie alle persönlich begrüßt und dabei einen recht zufriedenen, wenn auch etwas angespannten Eindruck gemacht.
„Ich will euch nicht lange von eurer Arbeit abhalten.“ fing Saton an und strahlte selbst bei diesen einfachen Worten eine spürbare Würde aus. „Zunächst möchte ich allen, die hier stehen, meinen Dank aussprechen. Ich glaube kaum, dass die Qualität der Krieger, die hier ausgebildet werden, jemals so hoch war wie in den letzten Jahren. Die Absolventen sind diszipliniert, verfügen über eine bemerkenswerte Kampfkraft und sind in jeder Hinsicht ein Vorbild für das ganze Land. Das verdanken sie allein euch. Aber heute bin ich auch aus anderen Gründen gekommen.“ Er räusperte sich und hob seine Stimme etwas, um dem, was nun folgte, noch mehr Nachdruck zu verleihen. „In wenigen Tagen werden die ersten Schiffe gen Süden ablegen und die nächsten Wochen und Monate sind bedeutsam für ganz Cycalas. Noch nie haben sich die Sichelländer so nah an die Fremdvölker gewagt. Noch nie haben wir unser Reich verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen. Und deshalb – das muss uns allen klar sein – war auch die Gefahr für uns nie größer. Vielleicht wird es gar nicht zu einem Kontakt mit den Menschen im Süden kommen, aber vielleicht doch. Und dann müssen wir darauf vorbereitet sein – im Guten wie im Schlechten. Deshalb spreche ich zu euch. Schärft eure Sinne. Schult eure Zöglinge. Die Hantua sind ein alter, uns lange bekannter Feind, die Shangu haben wir nicht zu fürchten. Was aber südlich der großen Berge lauert, müssen wir erst noch kennenlernen und wir müssen stets in der Lage sein, sie zurückzuschlagen, falls sie eine Gefahr darstellen sollten. Sehr bald schon werden unsere Spione und Kundschafter mehr wissen und sie werden diese Informationen an euch weiterleiten. Unterschätzt die Fremdvölker nicht. Seid wachsam und bereit, euch einem Kampf zu stellen, der möglicherweise aus heiterem Himmel über euch hereinbricht!“
Saton führte eine eindringliche Rede und mit jedem Wort wuchs der Stolz und der Ehrgeiz in den alten Kriegern und der Wunsch, diese Gefühle an ihre Schützlinge weiterzugeben.
Dann entließ der Shaj die Ausbilder und blieb zusammen mit Wandan und Bohain zurück. Er wandte sich an den alten Säbelmeister.
„Wo kann ich in Ruhe mit ihr sprechen?“ fragte er nur.
„In meinem Arbeitszimmer.“ bot Bohain an und warf Wandan einen fragenden Blick zu. „Wenn ihr bei diesem Treffen zugegen sein möchtet, lasse ich noch einen weiteren Stuhl bringen.“
Doch Wandan schüttelte den Kopf.
„Nein, ich werde inzwischen die Sichelklasse inspizieren. Der hohe Shaj wird seine Tochter unter vier Augen empfangen.“
Bohain geleitete Saton in einen abgelegenen Raum in einem düsteren Gebäudetrakt. Als sie eintraten, wartete Lennys bereits und vertrieb sich die Zeit damit, den Inhalt des reich gefüllten Bücherregals in Augenschein zu nehmen.
"Habt ihr noch einen Wunsch, hoher Shaj?" fragte Bohain, doch Saton winkte ab. "Nein. Lass uns allein. Keine Störungen."
Nachdem Bohain die Tür wieder fest hinter sich verschlossen hatte, ließ sich Saton auf den Ledersessel des Säbelmeisters sinken und betrachtete seine Tochter, die sich zwar umgedreht, aber kein Wort der Begrüßung verloren hatte. Er stellte fest, dass sie älter aussah als sie wirklich war und trotz der Ähnlichkeit zu ihrer verstorbenen Mutter erkannte er auch Unterschiede. Insgesamt war der Shaj mit dem, was er sah, nicht nur ausgesprochen zufrieden, sondern empfand auch eine gewisse Wehmut. Was hätte er nicht dafür gegeben, Curedas Meinung zu Lenycas Entwicklung zu hören.
"Du hast dich gut eingelebt, wie ich höre." eröffnete er das Gespräch freundlich.
"Beruhigt dich das?"
"Ja, allerdings. Wie ich höre, bringst du bei den Übungskämpfen hervorragende Leistungen."
Sie zuckte die Achseln.
"Bei diesem Kinderkram hier langweile ich mich eher. Wann kann ich in die nächste Klasse aufsteigen?"
"Bald, denke ich. Wenn nichts dagegen spricht. Und bislang stehen die Zeichen gut. Allerdings sollten wir beide vorher noch einige Dinge klären."
"Und was?"
"Ich hatte in den letzten Jahren wenig Zeit für dich. Weit weniger als ein Vater haben sollte."
"Ich habe dir keinen Vorwurf gemacht."
Erstaunt sah er auf.
"Nein, das hast du in der Tat nicht. Aber ich mache mir Vorwürfe. Trotzdem bin ich stolz darauf, zu sehen, was aus dir geworden ist. Du hast mich in den letzten Monaten sehr angenehm überrascht."
"Ich mag es nicht, wenn du so etwas sagst."
"Ich weiß. Aber es ist trotzdem so. Allerdings muss ich dir auch sagen, dass nicht alle meiner Meinung sind. Du bist ruhiger, zurückgezogener als früher. Und abweisender. Ich persönlich denke, dass dir das helfen wird. Wandan allerdings bedauert, dass du immer häufiger seine Lehrstunden verweigerst. Um ehrlich zu sein, fürchte ich, er wünscht sich das kleine Mädchen zurück, mit dem er einst in Vas-Zarac harmlose Übungskämpfe veranstaltet hat. Aber natürlich weiß er auch, dass du erwachsen wirst."
"Ich kann auf Wandans Wünsche keine Rücksicht nehmen."
Sie sagte dies mit einer fast schon gleichgültigen Kälte und Saton überkam ein leichter Schauer.
"Lenyca, ich würde dich sehr gern etwas fragen. Ich weiß, dass du mir darauf nicht antworten möchtest. Aber ich bitte dich, es dieses eine Mal zu tun und ich verspreche dir, ich werde dich nicht mehr damit belästigen. Doch von dieser Antwort hängt viel ab - mehr als du im Moment denkst."
"Und was willst du fragen?"
"Ich wüsste gern, ob dein Wandel in den letzten Monaten vielleicht weniger dem Einfluss eines Menschen als dem eines Gottes zu verdanken ist."
Sie sah ihn lange und durchdringend an, ohne ein Wort zu sagen. Es kostete Saton Überwindung, diesem glühenden Blick standzuhalten und allein das, was er darin lesen konnte, war schon Antwort genug. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich diesem Thema verweigert, sie hätte vielleicht trotzig reagiert oder aber versucht, ihn zu umschmeicheln und abzulenken. Aber die Zeiten des Kindes, das seinen Willen durchsetzen wollte, selbst wenn es zum eigenen Nachteil war, waren vorüber.
"Ich lasse mich von niemandem beherrschen." sagte sie schließlich ganz ruhig. "Nicht einfach so. Gegen manche Dinge kann ich aber nichts tun. Er ist in mir und das wird er immer sein, ob ich will oder nicht."
Satons Magen schien sich zu verdrehen. Er wollte sich nicht vorstellen, welche Erfahrungen seine Tochter mit Ash-Zaharr gemacht hatte, allerdings wusste er, dass keine Begegnung mit der Großen Schlange sonderlich angenehm war - nicht für einen Batí und noch weniger für ein Mitglied der Ac-Sarr-Familie.
"Tut er dir weh?" fragte er möglichst unbeteiligt.
"Ich komme zurecht. Und ich will nicht mehr dazu sagen."
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