Der Nebel war fort. Und mit ihm die Stimme.
Sie hatte Recht gehabt. Die Stimme.
Du wirst lernen, Ehrfurcht zu haben.
Sie hatte es gelernt.
Du wirst um Verzeihung bitten.
Das hatte sie.
Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie versuchte nicht mehr an die Überwindung zu denken, die es sie gekostet hatte. Und nicht an den Schmerz, der sie schließlich so weit gebracht hatte. Und sie versuchte zu vergessen, dass sie ihren Herrn gefunden hatte. Einen, den man nicht beknien konnte, einen, der nicht nachgab und der sich nicht von ihr beeindrucken ließ, in welcher Weise auch immer.
Saton und Wandan nahmen sich vor, Lenyca in den nächsten Tagen besonders genau zu beobachten, allerdings traf ein jeder diese Entscheidung für sich, ohne sich mit dem anderen darüber zu beraten. Der Shaj wollte prüfen, ob es wirklich so wenig Grund zur Freude im Leben seiner Tochter gab, wie Wandan behauptete, Wandan hingegen wollte herausfinden, ob sich ihr Verhalten in irgendeiner Form verändert hatte.
Doch bereits am Morgen nach der unschönen Begegnung in Wandans Arbeitszimmer erlebten beide eine Überraschung. Die Tochter des Shajs erschien nicht zum Unterricht und ließ sich auch sonst nirgends in der Festung blicken. Die Reitstunde war freiwillig, sie musste nicht daran teilnehmen und somit erschien ihr Fehlen zwar als seltene, aber durchaus denkbare Ausnahme. Wandan machte sich jedoch ein wenig Sorgen, denn Lennys hatte nicht nur tags zuvor auf jegliche Mahlzeit verzichtet, sondern auch heute das Frühstück verweigert. War die Sijakwirkung so nachhaltig gewesen oder gab es andere Gründe?
Saton allerdings witterte unnachahmlichen Trotz. Machte Lennys sich nicht selbst das Leben schwer? Hatte nicht ihr eigenes Verhalten einen sehr großen Anteil daran, dass die Tage längst nicht so fröhlich verliefen, wie sie es hätten sein können?
Lennys hatte ihr Zimmer nicht verlassen. Jeder Muskel tat ihr weh und sie hatte in der vergangenen Nacht trotz der bleiernen Müdigkeit kein Auge zugemacht. Zu intensiv hallte der Donner Ash-Zaharrs noch in ihr nach und diesmal schaffte sie es nicht, die unliebsame Erinnerung zu verdrängen.
Sie kam sich schmutzig und wertlos vor. Sie, eine Ac-Sarr, hatte um Verzeihung bitten müssen. Sie hatte knien und betteln müssen.
Wie ein Sklave.
Sie hatte gehorchen müssen.
Wie ein Tier.
Niemand sollte jemals davon erfahren. Und niemand sollte sie so sehen. Obwohl sie die Reitstunden mochte und sich nach frischer Luft sehnte, war ihr der Gedanke, das Zimmer zu verlassen, zuwider. Natürlich hätte ihr niemand ansehen können, was geschehen war, aber es gab jemanden, der die Wahrheit schneller erkennen konnte als ihr lieb war. Der einzige Mensch, der möglicherweise einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.
Das Geräusch von vorsichtigen Schritten draußen auf dem Gang ließ sie hochschnellen. Suchte man bereits nach ihr? Wollte man ihr etwa das Fehlen bei der freiwilligen Reitstunde anlasten? Ihr hinterher spionieren? Sie erneut belehren?
Jemand klopfte zaghaft und gleich darauf wurde die Tür einen Spalt geöffnet.
„Ich habe nicht 'Herein' gesagt!“ blaffte Lennys den Besucher an.
„Verzeihung...“ Reichlich zögernd trat Afnan ein. „Ich dachte nur, ihr möchtet vielleicht etwas essen....“
Ohne aufzusehen, stellte er ein voll beladenes Tablett ab und nahm einen leeren Wasserkrug vom Tisch. Als Lennys ihn nicht weiter beachtete, räusperte er sich und sagte leise:
„Es tut mir sehr leid, dass ich nicht in der Lage war, euch vor dem Erscheinen des hohen Herrn Wandan zu warnen, aber ich...“
„Lass mich allein.“ erwiderte Lennys, ohne auf die Entschuldigung einzugehen. „Und sorge dafür, dass ich nicht gestört werde!“
„Ich... ich habe noch eine Nachricht... oder eher zwei...“
„Und die wären?“
„Zum einen lässt euch der Herr Rahor seine Grüße bestellen. Er reist heute wieder ab und er bedauert, dass er sich nicht verabschieden kann. Außerdem lässt der Herr Wandan anfragen, ob ihr euch heute abend mit ihm treffen möchtet.“
„Nein, möchte ich nicht.“
Etwas verwirrt nickte Afnan und verließ den Raum wieder. Als die Tür ins Schloss fiel, hatte Lennys das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Sie wollte nach draußen, weit weg von diesem Zimmer, weit weg von der Burg und vor allem weit weg von allen Dienern, Kriegern und Würdenträgern.
18. Tag des Mena im 23. Jahr Satons
An der Westküste Cycalas' waren nur selten Menschen zu beobachten. Es gab hier wegen der derben Winterstürme und der kargen Landschaft keine Siedlungen und wer gerne am Meer leben wollte, zog den inneren Sichelbogen im Osten vor, wo man der unbarmherzigen Natur nicht ganz so hilflos ausgeliefert war.
In diesem Frühling aber erfreute sich der felsige Landstrich, der in einer kiesbedeckten Bucht endete, zunehmender Beliebtheit bei Schaulustigen aus dem ganzen Land. Besonders aus Askaryan und Semon-Sey kamen immer wieder Wanderer hierher, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten und findige Händler boten gegen einen saftigen Preis sogar an, den einen oder anderen auf ihrem Wagen mitzunehmen und einen Umweg über die Küste zu fahren. Dabei gab es die meiste Zeit über gar nichts allzu Aufregendes zu sehen. Natürlich, die großen Schiffe und Barken der Geliebten der Erde boten ein eindrucksvolles Bild, ebenso die wachhabenden Soldaten, aber die sagenhaften Silberschätzen des Reichs, die als Fracht an Bord gebracht wurden, blieben dem gewöhnlichen Zuschauer verborgen. Zu streng wurden die Truhen mit dem kostbaren Metall bewacht und zur Nachtstunde, wenn die Übergabe an die Kapitäne erfolgte, durfte sich kein Unbefugter den Laderampen nähern.
Trotzdem galt es als Ehre, bei diesem eigentlich historischen Ereignis dabei zu sein. Zum ersten Mal verließen die Heiligtümer Cycalas' das Land und zum ersten Mal strebten Sichelländer an, außerhalb ihrer eigenen Grenzen sesshaft zu werden. Natürlich sollte es kein dauerhafter Zustand sein. Niemand dachte daran, auf der weit im Südwesten gelegenen Abendinsel mehr als ein vorübergehendes Lager zu errichten, keine Rede war von Dörfern oder Städten und die Frage, ob man zu den rückständigen Fremdvölkern Kontakt aufnehmen würde, war immer noch nicht beantwortet. Aber es war ein Schritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.
Mehr als nur eine kurzer Vorstoß der Krieger in den Shanguin-Gürtel oder nach Zrundir.
Mehr als nur eine Expedition nach Valahir.
Viel mehr.
Saton fand in diesen Tagen nur selten Schlaf. Der Shaj der Nacht verbrachte viel Zeit damit, das Verladen des Silbers selbst zu überwachen und noch mehr Zeit mit langen Gesprächen im Großen Saal. Die Dunen, die obersten Handwerker des Landes, waren froh, dass der höchste Gebieter der Nacht so eng mit ihrem eigenen Oberhaupt Ron-Caha-Hel zusammenarbeitete und ihnen so allen nur erdenklichen Schutz zusicherte. Und auch Maliss, die Shaj des Himmels, suchte ständig seinen Rat, denn immerhin spielten die Priester des Landes eine gewichtige Rolle in dieser Geschichte. Saton konnte sich nicht erinnern, wann die drei Säulen jemals so aufeinander angewiesen waren – in einer Angelegenheit, die sich fernab des Sichellandes zutragen sollte. Und er war froh, dass er den beiden anderen Herrschern voll und ganz vertrauen konnte. Es war nicht selbstverständlich, wie ihn die Geschichte der Shajs gelehrt hatte.
Auf einem großen Platz mit gestampfter Erde hatten Handwerker ein gewaltiges Zelt aufgebaut. Hier hielten sich die höchsten Würdenträger die meiste Zeit über auf, wenn nicht gerade das Silber an die Schiffe übergeben wurde. Audienzen für Kapitäne und Minenvorsteher wurden hier ebenso abgehalten wie die Vorträge der Kundschafter und Säbelwächter und selbst die gemeinsamen Mahlzeiten der Shajs und ihrer Erwählten fanden hier statt, sofern sich die Herrscher nicht in ihre eigenen kleinen Ruhezelte etwas abseits zurückzogen.
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