Saton sagte nichts. Natürlich hatte Beleb recht. Aber der Cas kannte nur einen Teil der Wahrheit und Lennys ging es nicht anders. Zumindest bis jetzt. Der Zeitpunkt, an dem sie auch den Rest erfahren sollte, ließ sich nicht mehr lange hinauszögern.
Als Wandan am Verladeplatz der Schiffe ankam, war es schon fast dunkel geworden und Saton hatte die Eingangsbahnen des Zelts weit aufschlagen lassen, um die Abendluft zu genießen.
Der Shaj saß bei einem Becher Sijak auf seinem breiten Lehnstuhl und ließ den kühlen Wind über sein Gesicht streichen, als ein Diener den hohen Krieger meldete.
„Wandan... endlich! Was hat dich aufgehalten?“
Der Cas reckte seine Glieder, die von dem langen Ritt steif geworden waren.
„Ein Pferd ist durchgegangen, direkt bei den Ställen. Keines von unseren, sondern ein Hengst aus der Säbelklasse, aber er hat auch bei den Mondpferden für Aufregung gesorgt. Ist aber alles gut gegangen. Ist Beleb schon weg? Ich wollte ihm nämlich sagen, dass Balman ein wirklich gutes Händchen für die Tiere hat. Mir blieb da nicht viel zu tun.“
„Wenn du so wenig zu tun hattest, warum hast du mich dann trotzdem warten lassen? War es dir wichtiger, den Sohn eines Freundes zu beobachten?“
Wandan stutzte. Es kam äußerst selten vor, dass Saton ihn tadelte oder derart ungehalten mit ihm sprach.
„Das war es natürlich nicht. Ich bin sofort losgeritten, nachdem im Stall wieder alles in Ordnung war.“
„Und ohne dich wären sie nicht zurechtgekommen?“
„Doch, das wären sie. Aber ich kann ja nicht einfach so tun, als ginge mich das nichts an.“
„Ich wollte, dass du sofort nach dem Tagesunterricht hierher kommst!“
„Was ist eigentlich los mit dir? Wirst du angegriffen? Ist das Silber in Gefahr? Es ist nicht meine Schuld, dass du heute nicht in den Kasernen sein konntest. Aber wenn es dir so zu schaffen macht, dann bleibe ich eben hier und übernehme die Geschäfte und du kannst nach Semon-Sey zurückreiten.“
„Willst du mir sagen, was ich zu tun habe?“
Wandan schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Wenn Saton derart schlechte Laune hatte, war es besser, ihn nicht noch weiter zu reizen. Er beschloss, das Ganze auf sich beruhen zu lassen und dem Shaj die Gelegenheit zu geben, sich zu fangen.
„Dann sag schon, was dort vor sich geht.“ knurrte Saton nach einer Weile. „Wie schlägt sie sich?“
„Hervorragend.“ lächelte Wandan. „Es war auch nicht anders zu erwarten. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht ihre eigenen Ausbilder deklassiert. Und lange wird das wohl nicht mehr dauern. Lennys könnte es derzeit problemlos mit Rahors Jahrgang aufnehmen. Bohain hat bereits vorgeschlagen, dass sie zum Herbst hinaufgestuft wird. Wir sollten die Entscheidung nicht sofort fällen, aber vielleicht hat er recht.“
„Ihr Talent stelle ich nicht in Frage.“
„Sie hat sich sehr verändert in den letzten Monaten. Das ist uns doch beiden schon aufgefallen. Ich habe natürlich den Verdacht, dass sie weiterhin mehr oder weniger tut, was sie will, aber sie weiß es besser zu verbergen. Und sie distanziert sich von allen. Auch von mir, wie ich leider zugeben muss.“
„Vielleicht wird sie einfach erwachsen.“ In Satons Worten schwang Bedauern mit. „Wenn sie überhaupt jemals ein Kind war. Aber ich bin sehr zufrieden mit ihrer Entwicklung. Es ist langsam an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen.“
„Den nächsten Schritt?“
„Ich werde sie wohl bald mit ins Heiligtum nehmen. Und dann gibt es da noch einige Dinge, von denen selbst du nichts weißt, Wandan. Aber ich will nicht weiter davon reden. Sag mir, hat sie schon Freunde gefunden?“
„Freunde?“ Wandan lachte. „Ich glaube, bis Lennys so etwas wie Freundschaft empfindet, kann noch sehr viel Zeit vergehen. Es gibt einige Säbelschüler, die man häufiger in ihrer Nähe sieht. Orcus biedert sich ziemlich an, aber das war ja schon zu vermuten. Sie hält wohl nicht allzu viel von ihm. Ascoro Min-Lyva liegt ihr wohl mehr. Er wird übrigens nächsten Monat die Prüfung der Waffenschmiede ablegen.“
„Ich weiß. Und er ist bereits für den Dienst in Vas-Zarac vorgesehen. Und er ist ein ausgezeichneter Kämpfer. Ich beabsichtige, Akosh noch vor dem nächsten Winter zu weihen. Zawas Gesundheit verlangt nach ruhigeren Zeiten und ich könnte mir kaum einen besseren Nachfolger vorstellen. Aber wir sind nicht hier, um über Akosh zu reden. Auch wenn ich es gutheiße, dass Lennys sich mit ihm versteht.“
„Ich habe gehört, dass sie ein paar abfällige Bemerkungen über diesen jungen Iandal gemacht hat. Sie hält ihn für ein Großmaul.“
„Iandal ist sehr ehrgeizig. Wir sollten ihn im Auge behalten. Die derzeitigen Jahrgänge sind ausgesprochen vielversprechend. Und der Kreis meiner Erwählten bröckelt, viele Cas sind inzwischen zu alt für große Kämpfe. Natürlich machen sich zahlreiche Sichelkrieger große Hoffnung auf eine Erhebung, aber ich schätze es, junges Blut um mich zu sammeln. Zusammen mit der Erfahrung von Cala, Beleb und dir würden sie einen sehr schlagfertigen Ring um mich bilden.“
„Also viele Veränderungen in den nächsten Jahren?“
„Ich fürchte ja. Und so wie es aussieht, werde ich einen Platz ohnehin freihalten müssen.“
Wandans Grinsen wurde noch breiter. „Lennys' Weg ist vorgezeichnet. Sie wird eine große Cas.“
„Das werden wir sehen. Sie darf keine Vorteile haben, nur weil sie meine Tochter ist."
In der Kaserne von Semon-Sey herrschte große Aufregung. Im Grunde genommen war es schon seit Wochen nicht mehr so ruhig wie sonst, aber in diesen Tagen wirkten selbst die ausgeglichensten Schüler aufgekratzt und nervös.
„Iovas! Dway! Ruhe jetzt! Was ist das für ein Benehmen?“ Der alte Säbelmeister Bohain wurde zunehmend ärgerlicher. „Was gibt es bei euch zu tuscheln?“
Verlegen sah die braunhaarige Dway zu Boden, doch Iovas meldete sich sofort zu Wort.
„Hoher Bohain, es ist wegen des Besuchs des Shajs. Wir fragen uns, ob er alle Säbelklassen begrüßen wird oder nur...“
Bohain verdrehte die Augen.
„Ist das eure größte Sorge? Es ist nicht das erste Mal, dass der Shaj der Nacht die Kasernen besucht. Im Gegenteil, normalerweise tut er das regelmäßig. Nur die derzeitigen Ereignisse an der Küste halten ihn davon ab. Die höheren Klassen sind längst an ihn gewöhnt. Ich weiß wirklich nicht, warum euch Satons Anwesenheit so in Aufregung versetzt.“
„Vielleicht will er neue Cas auswählen!“ platzte Iovas heraus.
„Dann gehörst du sicher dazu...“ zischte jemand von hinten ironisch und alle lachten. Iovas verzog das Gesicht, doch angesichts des strengen Blicks, den er von Bohain erntete, verzichtete er auf eine weitere Antwort.
„Der Shaj...“ begann der Ausbilder mit gewichtiger Stimme, „...ist natürlich immer bestrebt, die Erfolge unserer Zöglinge zu bewundern und herausragende Talente zu entdecken. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass sein Hauptinteresse vermutlich seiner Tochter gilt. Die ehrenwerte Herrin Lenyca unterzieht sich ebenso wie ihr alle dieser Ausbildung und natürlich wünscht der Shaj, sich selbst ein Bild davon zu machen.“
Wieder wollten einige Schüler eine Bemerkung wagen, doch Bohain winkte ab. Er wollte nicht, dass sein Unterricht weiter gestört wurde und vor allen Dingen musste er darauf achten, dass Lenyca Ac-Sarr nicht allzu sehr in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückt wurde. Darum hatte ihn der Shaj ausdrücklich gebeten.
Nachdenklich betrachtete er die Gruppe, die erwartungsvoll auf die nächste Lektion wartete. Es war die Vorbereitungsklasse zur ersten Säulenprüfung und die meisten waren im Alter zwischen sechzehn und siebzehn Jahren. Noch drei Sommer mussten vergehen, bevor sie endgültig ihre Ausbildung abschließen konnten. In der hintersten Reihe verbarg sich der junge Mann, der eben noch spöttisch über Iovas geurteilt hatte und zugleich Bohains heimliche Hoffnung war. Der Beste des Jahrgangs. Fast so gut wie Rahor, obwohl dieser jünger war. Wenn man von dem einzigen Sohn der Req-Nuurs und Lennys einmal absah, war dies der vielleicht aussichtsreichste Kämpfer in den Kasernen. Er würde mit Saton über dieses Talent reden müssen, auch wenn der Shaj zur Zeit für derlei Berichte kaum ein Ohr hatte. Doch schon in wenigen Wochen standen die ersten Prüfungen an und dann würden sich die Säbelklassen neu formieren – weniger ihrem Alter, aber umso mehr ihrem Können entsprechend.
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