Mürrisch und betont langsam ging sie um den Burghof herum in Richtung des Casflügels. Am liebsten hätte sie einen noch größeren Umweg gemacht, um der brennenden Sonne zu entgehen, aber auf der anderen Hofseite, die im Schatten lag, stand eine ganze Gruppe von Küchenmägden und Waschweibern, von denen sie sich lieber fernhalten wollte. Stattdessen bog sie in einen kleinen Seitentrakt ab.
Hierher kam sie selten. In diesem Teil der Burg lagen die Arbeitszimmer der höheren Dienerschaft, die den Haushalt Vas-Zaracs verwalteten. Aber Diener waren immer noch Diener und wenn sie einen benötigte, so ließ sie nach ihm rufen und suchte nicht selbst nach ihnen. In diesem Fall musste sie aber wohl oder übel eine Ausnahme machen.
Da sie nicht sicher war, welche Tür die richtige war, stieß sie die erstbeste Pforte auf. Dahinter fuhr ein älterer Mann, an dessen Namen sie sich nicht erinnern konnte, an seinem Schreibtisch erschrocken zusammen.
"Herrin Lenyc... Lennys... welche eine Ehre...Wie... wie kann ich euch helfen?"
"Wo ist Afnan?"
"Oh... er... er... ich habe ihn heute noch nicht gesehen, Herrin. Vielleicht ist er..."
"Ich habe keine Lust, die ganze Festung nach ihm abzusuchen."
Schon halb im Gehen, zögerte Lennys dann aber doch kurz. "Hast du hier Heilmittel?" fragte sie so belanglos wie möglich.
"Heilmittel?"
"Etwas gegen Kopfschmerzen zum Beispiel."
"Nein, Herrin, das tut mir leid. Nicht hier. Aber ich kann euch etwas bringen lassen, wenn ihr möchtet. Es wird sicher nicht lange dauern..."
"Nein." Ohne ein weiteres Wort kehrte Lennys in den kühlen Flur zurück. Konnte denn heute gar nichts nach ihren Wünschen verlaufen?
"Du warst nicht beim Essen." Wandan sah Lennys noch nicht einmal an, als sie eintrat, sondern drehte ihr den Rücken zu und studierte weiter die Schriftrolle, die er gerade in der Hand hielt.
"Nein."
"Warum kommst du dann erst jetzt? Cala hat dich doch sicher erreicht, oder?"
"Ja."
"Und?"
Sie hasste es, so von oben herab behandelt zu werden und hätte Wandan am liebsten gründlich die Meinung gesagt. Wie konnte er es wagen, so mit ihr zu reden? Dennoch beschloss sie, erst einmal abzuwarten.
"Ich habe dich etwas gefragt." wiederholte Wandan erstaunlich ruhig. "Warum bist du nicht sofort hierhergekommen, so wie ich es dir habe mitteilen lassen?"
"Ich war beschäftigt."
Jetzt sah er zum ersten Mal auf.
"Beschäftigt? Aha..."
Er ging um ein Bücherregal herum, das mitten im Raum stand, verschwand dahinter in eine Ecke, die Lennys nicht einsehen konnte und kehrte gleich darauf ohne die Schriftrolle wieder zurück.
"Setz dich."
'Ich setze mich, wann es mir passt und nicht, wenn man mich dazu auffordert.' dachte Lennys störrisch und obwohl sie liebend gern Platz genommen hätte, blieb sie stehen. Wandan achtete nicht darauf, ließ sich in einen ausladenden, gepolsterten Stuhl mit breiten Armlehnen sinken, der hinter seinem Schreibtisch stand und verschränkte die Arme.
"Du warst heute nicht gerade bei der Sache. Im Geschichtsunterricht hast du die meisten Fragen falsch oder nur teilweise beantwortet. Und über deine Fehler in der Schriftlehre an diesem Tag reden wir mal besser gar nicht erst."
"Spionierst du mir nach?"
"Natürlich tue ich das. Es gehört zu meinen Aufgaben, falls dir das bisher entgangen ist. Du siehst also, auch die Cas müssen Dinge tun, die ihnen nicht gefallen. Ich kann mir wirklich Schöneres vorstellen, als mich den ganzen Tag mit deinem Benehmen herumzuärgern."
"So darfst du nicht mit mir reden!"
"Ob du es glaubst oder nicht - ich darf. Aber es steht dir völlig frei, dich bei Saton darüber zu beschweren."
"Das werde ich auch!"
"Schön. Übrigens glaube ich, dass dies hier ein längeres Gespräch wird. Bist du dir sicher, dass du weiterhin stehenbleiben willst?"
"Ja."
"Wie du willst. Zunächst einmal werden wir ein paar ganz grundsätzliche Dinge klären." Er klang immer noch erstaunlich freundlich und Lennys fragte sich, wann genau der Krieger die große Standpauke einläuten würde.
"Vielleicht überrascht es dich, aber in den letzten Wochen war ich durchaus von deinen Fortschritten angetan. Du hast gelernt, dich zu mäßigen und dich an einige Regeln zu halten, die dir früher nur unsinnig erschienen. Und obwohl man dich nicht gerade eine fleißige Schülerin nennen kann, so sind deine Leistungen im Unterricht doch weitestgehend zufriedenstellend. Mir ist vollkommen klar, dass ich von dir manche Dinge nicht erwarten kann, andere wiederum erwarten muss. Dein Vater hatte mich angewiesen, dafür zu sorgen, dass du eine gute Kriegerin wirst, wenn du es denn möchtest und schon vor Jahren habe ich versucht, dir beizubringen, dass dazu mehr gehört als ein gewisses Talent im Säbelkampf. Ein Krieger muss Disziplin besitzen, Selbstbeherrschung und Ehrgeiz. An den ersten beiden fehlt es dir - und das in hohem Maße. Das ist der Grund, warum ich nicht nur deine Kampfkunst trainiere, sondern dich ständig und immer wieder zu Dingen anhalte, die dir eigentlich überflüssig erscheinen."
"Das hast du mir alles schon mal gesagt. Mehr als einmal."
"Anscheinend nicht oft genug, denn offenbar hast du es nicht so ganz verstanden. Außerdem scheinst du immer noch der Meinung zu sein, nur aufgrund deiner Herkunft einen Rang zu haben, der über dem aller anderen steht. Muss ich dich daran erinnern, dass Saton selbst dir sehr deutlich klargemacht hat, dass du dich in Sachen Regeln, Anordnungen und Befehlen nicht nur ihm, sondern zumindest auch den Cas zu unterstellen hast, solange du dich noch nicht in der Ausbildung befindest?"
"Und wenn schon! In ein oder zwei Jahren habt ihr mir sowieso nichts mehr zu sagen!"
Wandan hob die Brauen.
"Warum bist du so wütend, Lenyca?"
"Nenn mich nicht Lenyca!"
"Also schön. Warum bist du so wütend, Lennys? Bisher sind wir beide doch recht gut miteinander ausgekommen, oder nicht?"
Sie zuckte die Achseln.
"Ich nehme an, du bist wütend, weil ich dich gestern abend und heute morgen nicht mit Samthandschuhen angefasst habe, ist das richtig? Nein, du musst darauf nicht antworten. Ich möchte eigentlich vermeiden, dass du noch mehr Dinge sagst, die dir schaden. Gut, du bist also gekränkt. Da bist du nicht die einzige." Er beugte sich hinab, griff nach etwas und holte es unter dem Schreibtisch hervor.
Die nicht einmal mehr halbvolle Sijakflasche stand nun direkt vor ihm.
"Ich bin auch gekränkt, Lennys. Mehr als das. Ich bin gekränkt und enttäuscht. Wahrscheinlich habe ich dir in letzter Zeit ein paar Komplimente zuviel gemacht - über deine Säbelfertigkeiten und deine Leistungen. Das tut dir offensichtlich nicht gut. Du denkst, dass du dir alles erlauben kannst und auch, dass du alle Rechte hast. Du hast von der Cas-Feier gehört und gedacht 'Das kann ich und darf ich auch.'. Und dabei hast du leider vergessen, dass du ein vierzehnjähriges Mädchen bist, dass noch nicht einmal eine einzige Säbelprüfung hinter sich gebracht. Ein vierzehnjähriges Mädchen mit dem Talent eines Erwachsenen, dem Verstand seiner Eltern und der Vernunft und dem Benehmen eines Kleinkindes. Keine gute Mischung, das muss ich schon sagen. Ich hatte dich für reifer gehalten. Für verantwortungsbewusster. Genau das bist du nämlich nicht."
"Bist du endlich fertig?"
"Noch lange nicht. Und ich würde dir dringend raten, dich ein wenig zu zügeln. Willst du mir unbedingt beweisen, dass ich recht habe? Wie wäre es, wenn du das Gegenteil tätest? Mir beweisen, dass ich falsch liege? Ich bin durchaus bereit, die eine oder andere Entgleisung von dir etwas gelassener zu sehen, wenn du mir Grund zu dieser Nachsicht gibst. Möglicherweise könntest du sogar einer härteren Strafe durch deinen Vater entgehen. Du musst lediglich dich selbst überwinden und mit ein bisschen entgegenkommen."
Читать дальше