1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Nach einigen weiteren Absage, die Johnny mit Liebe und Fassung erträgt, ist es dann endlich soweit. Mama Dobler genehmigt zwar nur einen halbstündigen Spaziergang am Sonntag. Doch im Advent wird täglich in der Frühe das Rorate zu Ehren Marias abgehalten. Für Anna nichts Ungewöhnliches, Johnny hingegen kann ohne Übertreibung sagen, dass er in 23 Jahren noch nie so oft und noch nie so früh in der Kirche gewesen ist. Um ein Zusammentreffen mit Kirchgängerinnen aus dem Dunstkreis von Mama und Tante Rosa zu vermeiden, besuchen sie das Rorate im Kloster, das in Huwyler nur „Klösterli“ genannt wird. In der kleinen Kapelle gibt es keine Geschlechtertrennung wie in der Pfarrkirche. Anna und Johnny knien eng aneinander gepresst in der hintersten Bank. Anna singt mit leuchtenden Augen die schlichten Choräle mit. Johnny wird es ganz heiß, trotz der Eiseskälte im ungeheizten Gotteshaus. Danach laufen sie im Schneeregen Hand in Hand zu „ihrer“ Parkbank am Weiher. Johnny befreit die Sitzfläche vom Schneematsch und nimmt Anna auf seinen Schoss, damit ihr Mantel trocken bleibt. Sie legt ihren Kopf an seine Schulter und kuschelt sich an seinen Hals, schnüffelt sein Kölnisch Wasser und ihr Herz klopft so wild, dass sie glaubt, er müsse es hören. Es schneit jetzt in großen nassen Flocken, die auf dem Boden sofort schmelzen. Nur auf der Sumpfwiese bleiben ein paar Schneeflecken im Gras liegen. Johnny hat im Radio gehört, dass es kälter werde, möglicherweise gäbe es sogar weiße Weihnachten. Anna nickt nur, vergräbt sich an seiner Brust und wünscht, dass es ewig so weiterschneien möge.
Am Sonntag dann noch der genehmigte halbstündige Spaziergang im verschneiten Park – Mama Dobler, Tante Rosa und Magdalena gönnen sich auch ein paar Schritte an der frischen Luft. Sie halten aber Abstand, um den Anschein von Kontrolle zu vermeiden. Dann die letzte Gelegenheit ein wenig Händchen zu halten und verstohlene Küsse zu wechseln: Der vorzeitige Gang zum Bahnhof. Anna erfährt, dass Johnny dreimal in der Woche den Abendunterricht beim Kaufmännischen Verein Zürich besucht, um das Buchhalterdiplom zu machen. Sie ist mächtig stolz auf ihn. Doppelsalto am Reck, Chefbuchhalterdiplom. Da kommt sie sich wieder einmal recht dumm vor. Johnny will eine Frau, mit der er „über alles reden“ kann. Sogar über Buchhaltung. Zum Nikolaus schenkt er ihr ein Lebkuchenherz und das Buch „Bilanzkunde und Bilanzrecht“. Als Lektüre für einsame Abende. Und er schlägt ihr vor, ab sofort ein Haushaltsbuch zu führen. Da könnte er dann ihre Fortschritte in der Buchführung direkt überprüfen. Anna verspricht es, und schon fährt der Zug los. Grinsend läuft Johnny bis zum Ende des Bahnsteigs neben ihrem Fenster mit und überspringt mit einer eleganten Grätsche einen Handkarren, der im Wege steht. Dann verschwindet er im Schneegestöber. Anna lacht und wirft ihm eine Kusshand zu. Ein Tausendsassa, ihr Johnny.
Johnny hingegen ist nicht mehr ganz so euphorisch. Er setzt sich an seine Schreibmaschine und zieht Bilanz:
Mit Anna verbrachte Zeit am Samstag/Sonntag
• abholen vom Bahnhof (Freitagabend) |
30 Min. |
• Kirche (Rorate) |
45 Min. |
• am Weiher (Samstag) |
25 Min. |
• Hochamt (getrennt durch Mittelgang |
60 Min. |
• Schwatz vor und nach der Kirche |
20 Min. |
• Sonntagsspaziergang (überwacht) |
45 Min. |
• Begleitung zum Bahnhof (Sonntag) |
30 Min |
Insgesam |
255 Min. |
davon unter Beobachtung |
230 Min. |
mit Anna zu zweit |
25 Min. |
Er schickt ihr einen Durchschlag der Aufstellung (leider sind durch das Kohlepapier die rot markierten Stellen auch nur schwarz) und schreibt, diesmal in seiner akkuraten Handschrift, einen Brief dazu. Nach ein paar Sätzen, in denen er seiner Liebe und Sehnsucht Ausdruck gibt, kommt er zur Sache:
… meinst Du nicht auch, dass, wenn wir schon jedes Mal wochenlang warten müssen, bis wir uns endlich wiedersehen, weil dein Arbeitgeber über Dich verfügt, als gäbe es keine geregelten Arbeitszeiten und keinen Anspruch auf Freizeit, wir wenigstens über unsere gemeinsame Zeit und wie wir sie verbringen möchten, selber bestimmen sollten? Ich will Dich nicht in einen Konflikt mit Deinem Elternhaus bringen und schon gar nicht einen Keil zwischen Deine liebe Mama und Dich treiben. Nein, sowas liegt mir fern. Aber vielleicht sollten wir uns einfach nehmen, was uns zusteht, ohne dabei überflüssige Diskussionen vom Zaun zu brechen: Was hältst Du davon, wenn wir uns nächsten Freitag (falls dein Patron Dir diesmal Deine wohlverdiente Freizeit gönnt) in Zürich treffen? Ein kleiner Umweg für Dich, ich bin ja schon da. Wir machen einen ungestörten Spaziergang durch die Anlagen am See, wo uns keiner kennt, trinken irgendwo einen heißen Punsch oder Tee und können endlich mal zärtlich sein, ohne uns dauernd nach unerwünschten Beobachtern umsehen zu müssen. Wäre das nicht wunderbar?
Anna liest den Brief und verbringt eine schlaflose Nacht. Auch wenn Johnny natürlich wie immer Recht hat – ihr widerstrebt es, ungehorsam zu sein und ihre Mutter anzulügen. Sie grübelt und grübelt, und endlich hat sie eine bessere Idee: am Samstag mit dem Fahrrad oder bei schlechtem Wetter mit dem Zug nach „Maria Bildstein“ zu fahren. Ihre Mutter habe nichts dagegen, schreibt sie Johnny, wenn sie gemeinsam zur Muttergottes in der Waldgrotte pilgern. Diese „heilige Jungfrau im Walde“ (wie viele gnädige und heilige Jungfrauen gibt es eigentlich, fragt sich Johnny) gelte als Fürsprecherin für Verlobte und Eheleute. Dass sein tête-à-tête schon wieder mit Knien und Beten verdient werden muss, stört Johnny nicht. Hauptsache, endlich mal ein paar Stunden ungestörter Zweisamkeit.
Das Wetter und Verleger Schmalzer (diesmal werden keine geistigen Besuche erwartet) sind den beiden hold. Der Föhn hat dem ersten Schnee schnell den Garaus gemacht und weht in trockenen, milden Stößen durch Huwylers Gassen. Schon am Vormittag fahren sie mit dem Fahrrad los. Für die untrainierte Anna ist es anstrengend, gegen die Böen anzutreten, die von den Alpen über die flache Ebene fegen. Johnny greift ihr lachend ins Kreuz und schiebt sie. So gelangen sie am frühen Nachmittag zu einer künstlichen Grotte, wo die heilige Jungfrau mutterseelenallein im Wald steht. Sie sind die einzigen Besucher, zünden eine Kerze an und bitten die Gottesmutter, sie zusammen glücklich werden zu lassen. Damit ist der religiöse Teil des Ausflugs auch schon erledigt. Johnny lädt Anna zu Tee und Kuchen in eine nahe gelegene Konditorei. Auf der Rückfahrt hat der Wind sich gelegt und sie machen Halt auf einer Anhöhe über der weiten Ebene, genießen stumm, wie sich die Sonne in rosa Pastelltönen im Abendnebel auflöst. „Wie im Paradies“, entfährt es Anna. Sie denkt an das Jüngste Gericht in der Pfarrkirche. Johnny sagt gar nichts und nimmt sie fest in den Arm, küsst sie, auf den Nacken, die Stirn, den Mund und wird immer leidenschaftlicher. Anna beantwortet seine Leidenschaft mit vielen kleinen, von Seufzern begleitenden Küssen. Derart ermuntert, wird Johnny immer kühner. Zwar zuckt Anna unmerklich zurück, als er ihren Busen liebkost (über dem Pullover), aber wie seine Hand noch tiefer gleitet, ihren Bauch streichelt und unter dem Rock zwischen ihren Beinen landet, stöhnt sie auf, versteift sich und versucht, seine Hand mit ihrer Hand wegzudrücken. Er gibt ihr nach, nimmt ihre Hand und führt sie in seinen Schritt. Anna erkennt schockiert, was sich da spannt wie der Bogen des prähistorischen Mammutjägers über Johnnys Bett, stößt einen spitzen Schrei aus: „Jesses Maria – nein!“, springt hoch und läuft weg. Johnny, verdutzt, läuft hinterher. Er packt sie, will sie umarmen, sie befreit sich. „Lass mich los, ich will heim“, schluchzt sie, und es gelingt ihm erst nach Minuten, sie zu beruhigen. Doch jede weitere Zärtlichkeit wird entschlossen abgelehnt. Schließlich steigen sie auf ihre Räder und fahren stumm durch die einbrechende Dämmerung zurück.
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