Nach einer schlaflosen Nacht, in der auch die Gebete und Fürbitten zur Jungfrau Maria keinen Frieden in die verstörten Gedanken bringen, geht Anna am Sonntag in der Früh zum Klösterli, um zu beichten. Nur der Beichtstuhl von Pater Frido ist besetzt. Pater Frido ist ein junger Mönch, der erst kurz in Huwyler ist und vor allem bei den Frauen als frischer Wind im recht verkalkten Klerus der Pfarrei gilt. Und Annas Erwartung wird nicht enttäuscht. Als sie ihm unter dem sechsten Gebot („Du sollst keine Unkeuschheit treiben“) die Ereignisse beichtet, unterbricht Pater Frido die verdutzte Anna mit der Bemerkung, sie habe kein Unrecht getan. Im Gegenteil. Vorbildlich für ein katholisches Mädchen. Da bricht Anna in Tränen aus: “Aber was soll ich denn jetzt tun? „Ich habe ihn doch lieb!“ Pater Frido schweigt lange hinter dem schwarzen Gitter des alten Beichtstuhls. Dann hebt er die Hand zur Absolution „Ego te absolvo…“ Anna schlägt hastig ein Kreuz und will sich – noch verwirrter als zuvor – erheben. Da sagt die Stimme hinter dem Gitter, was sie beschäftige, sollte nicht Gegenstand einer Beichte, sondern einer seelsorgerischen Beratung sein. Anna wird rot – was zum Glück im finsteren Beichtstuhl keiner sehen kann – und stottert etwas konfus: „Ja… wie denn?“ „In einer Stunde an der Klosterpforte, wenn Sie wollen.“ Das ist wenigstens eine klare Ansage.
Pater Frido, braune Kutte, gepflegter Vollbart, kommt mit elastischen Schritten auf Anna zu, die bleich auf der „Armen-Sünder-Bank“ im Eingangsbereich wartet. Er gibt ihr die Hand und schlägt einen kleinen Spaziergang im Klostergarten vor.
„Die frische Winterluft klärt manch trüben Gedanken!“, bemerkt er feinsinnig. Und so ist es dann auch. Ein kalter Nordostwind hat den Föhn abgelöst und eine Stunde später verlässt Anna das Kloster, mit roten Wangen und der Broschüre „Das katholische Jungmädchen“ in der Tasche. Erschienen im Schmalzer Verlag. „Als kleine Argumentationshilfe gegen ungestüme Leidenschaften“, hat Pater Frido gelächelt.
Johnny ist tief beunruhigt. Am Sonntag sieht er sie nicht im Hochamt. Und Magdalena, die er nach der Messe anspricht, sagt schnippisch, Anna sei schon in der Frühmesse gewesen und helfe heute Tante Rosa im Haushalt. Er fasst sich ein Herz und ruft später im Stadthaus an. Anna ist etwas verkrampft, was Johnny nicht wundert, da er sich vorstellen kann, wie Mutter und Tante mit gerunzelter Stirn und aufgestellten Lauschern hinter ihr stehen. Ja, sie helfe zuhause. Aber er dürfe sie noch zum Zug bringen, am Abend. Wenigstens das. Johnny versucht es auf dem dunklen Weg zum Bahnhof mit einem lockeren Plauderton, doch irgendwie hat er das Gefühl, sein Charme ziehe diesmal nicht so recht. Kurz vor der Abfahrt gibt Anna ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und einen Brief in die Hand. Johnny schwant Schlimmes. Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, reißt er das Kuvert auf. Es ist eine Karte mit der „Hl. Jungfrau Maria vom Bildstein im Walde“. Auf der Rückseite steht:
Lieber Johnny!
Schade, dass solche Vorkommnisse geschehen sind. Findest du nicht auch, dass es sich wie etwas Schwarzes, Hässliches ausnimmt im Leuchten der Erinnerung? So ist doch etwas ein bisschen verpfuscht. Und mir tat es weh, du hast dein Versprechen meiner lieben Mutter und mir gegenüber nicht gehalten. Obwohl ich doch so fest darauf baue. Deine Anna“
Will sie etwa Schluss machen?! Panik und Hilflosigkeit übermannen ihn. Trotz des stürmischen Wetters mit Schnee und Graupelschauern läuft er um den Weiher und setzt sich verzweifelt auf ihre Bank, die ihm jetzt so leer vorkommt. Eins ist klar: er will sie nicht verlieren. Auf keinen Fall. Obwohl er sich nach außen gern den Anschein des weltläufigen und erfahrenen Charmeurs gibt, dem die Mädchen zu Füßen liegen, muss er zugeben, dass seine bisherige amouröse Lebensbilanz eher dürftig aussieht. Anna ist die erste Frau, mit der mehr läuft, als das übliche unverbindliche Geschäker und Geplänkel. Es ist klar, dass jetzt Zerknirschung angesagt ist. Zu Hause setzt er sich an seine Schreibmaschine und gibt seiner Mama einen Korb, die ihn mit Punsch und Weihnachtsstollen zum Adventskranz ins Wohnzimmer locken will.
Er braucht einige Anläufe und fabriziert einen halben Papierkorb voll zerrissener Entwürfe, bis ihm die richtigen Worte einfallen.
…nur Deine Besonnenheit hat uns vor einer großen Sünde bewahrt… ich habe mein Versprechen nicht gehalten, jetzt wirst du
1. Auch meinen anderen Versprechen nicht mehr glauben,
2. finden, dass ich zu wenig religiös bin,
3. das Gefühl haben, dass ich Dich nur der sinnlichen Genüsse wegen liebhabe.
Darum bitte ich Dich, reiflich zu überlegen, ob Du mich noch liebhaben kannst, oder doch lieber einen religiöseren Mann suchst. Mit Tränen in den Augen schreibe ich Dir dies.
Dein Johnny
Anna sitzt wieder in der „Speis“. Die Türe hat sie diesmal versperrt. Sie liest, fühlt sich hin und her gerissen. Dass Johnny einsieht, dass er zu weit gegangen ist, erfüllt sie mit Genugtuung. Aber zugleich packt sie die Angst, dass ihr die Felle davon schwimmen. Pater Frido hat ihr zwar versichert, dass junge Männer „die es wert sind“, nicht gleich das Weite suchen, wenn ein Mädchen sie mit einer klaren katholischen Haltung konfrontiert. Ganz im Gegenteil. Ein „Jungmann mit ernsthaften Absichten“, werde seine Zukünftige umso höher achten, je klarer sie ihre Grundsätze vertrete. Sagt Pater Frido. Aber wenn Johnny sie missversteht? Glaubt, sie liebe ihn nicht mehr? Nein, das will Anna nicht riskieren. Sie beschließt, in der Sache hart zu bleiben, das Ganze aber in rosa Watte zu verpacken.
Lieber Johnny!
Dein trauriger Brief hat mich berührt. Du denkst doch nicht, dass ich Dich nicht mehr liebhabe? Oder glaubst Du, ich hätte Dich nochmals geküsst, wenn ich Dir wirklich böse wäre? Am Sonntag am Bahnhof hat mich das zwar ein Opfer gekostet, denn der Schmerz darüber, dass wir unser schönstes Gut verloren haben, hat mich tief geschmerzt. Mir tat es weh, dass unsere Liebe, die doch so gut und schön war, fast etwas Schmutziges geworden ist. Aber jetzt sollten wir mit neuem Mut darum ringen, rein zu bleiben. Was man immer wieder sagt – vor der Hochzeit muss die Liebe absolut platonisch sein. Denk doch daran, wie schrecklich es wäre, wenn dieses Verlangen plötzlich so stark über uns käme, dass wir es nicht mehr beherrschen könnten, wie schrecklich stünden wir da, nicht mehr rein vor Gott. Und es ist dann umso schwerer in der Ehe, wo man sich auch manchmal enthalten muss, wenn man es vorher nicht trainiert hat! Ich bin überzeugt, Du siehst es genauso, gell Johnny! Schon bald ist Weihnachten. Endlich sehen wir uns nicht nur an ein, zwei Tagen, sondern an vieren! Vom 23. bis zum 26. Dezember bin ich in Huwyler. Natürlich muss ich mich auch um Mama, Tante und Magdalena kümmern, aber es bleibt bestimmt auch etwas Zeit für uns. Zum Beispiel in der Heiligen Nacht – es wird mir richtig warm ums Herz, wenn ich mir vorstelle, wie wir alle durch den knirschenden Schnee zur Mitternachtsmesse laufen! Ich plange so auf Dich …
Johnny spürt wieder Aufwind und wird richtig euphorisch. Beim abendlichen Training in der Turnhalle gelingt ihm jeder Griff, jeder Aufschwung, sogar die Grätsche und der Doppelsalto am Reck. Auf Anhieb, ohne Patzer. „Genauso bringst du das am „Kantonalen“, grinst Otto Hutter, der Turnwart des Vereins, „dann stehen wir endlich auch mal oben auf dem Podest!“ Erst als Johnny zuhause den Brief nochmals liest, kommen ihm doch ein paar Fragen. Er holt den Schlüssel zur Schreibtischschublade aus dem Versteck (seine Mama, eine Seele von Mensch, ist manchmal etwas zu neugierig). In der hintersten Ecke, noch hinter der Armeepistole und der Munition, kommt ein Buch zum Vorschein. „Unser Geschlechtsleben“. Er schlägt das Buch auf der Seite „Geschlechtsbeziehungen in der Verlobungszeit“ auf und setzt sich dann an die Schreibmaschine.
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